"Wir rücken in Regionen jenseits der Vorstellungskraft vor" : Datum: , Thema: mosaic
In wenigen Tagen geht es los: Am 20. September 2019 bricht der Forschungseisbrecher Polarstern zu seiner einjährigen Drift durch die zentrale Arktis auf. Expeditionsleiter Markus Rex spricht im Interview über die Herausforderungen der Reise.
Bmbf.de: Auf der MOSAiC-Expedition erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 17 Nationen die Arktis im Jahresverlauf. Was ist das Spektakuläre an der Expedition?
Markus Rex: Eine Operation dieser Größenordnung hat es in der Arktis noch nie gegeben. Wir rücken in Regionen jenseits der Vorstellungskraft vor. Wir werden die zentrale Arktis ganzjährig erkunden und die wesentlichen Klimaprozesse erfassen, um den Klimawandel besser zu verstehen.
Spektakulär ist auch die Zahl der beteiligten Länder und Institute: An der Expedition nehmen insgesamt rund 600 Menschen von etwa 60 Instituten aus 17 Nationen teil. Jeder einzelne Forscher verbringt ungefähr zwei bis drei Monate auf der Expedition. Und auch die Logistik ist eine Herausforderung: Wir lassen fünf Eisbrecher in einer so ausgefeilten Choreografie über die Polkappe tanzen, dass wir immer zum richtigen Zeitpunkt wieder Nachschub an Treibstoff und Lieferungen bekommen und Personal austauschen können. All das hat es bisher noch nie gegeben.
Pressekonferenz zur Expedition MOSAIC
Statement von Bundesforschungsministerin Anja Karliczek bei der Pressekonferenz vor dem Start der Expedition.
Copyright: BMBF
Was genau haben Sie vor?
Wir legen am 20. September los – also im Spätsommer, wenn das arktische Eis am dünnsten ist und wir mit unseren Eisbrechern weit nach Norden gelangen können. Wir brechen in das arktische Eis rein und machen dann an einer stabilen Eisscholle mit einem Durchmesser von mehreren Kilometern fest. Auf der Scholle bauen wir das zentrale Forschungscamp auf. Weitere Messstationen werden bis zu dutzenden von Kilometern entfernt auf dem Eis aufgebaut und bilden ein ganzes Netzwerk um uns herum. Ab dem 20. Oktober ist es stockfinster. Deshalb kommt im September und Oktober eine sehr hektische Zeit auf uns zu, in der wir rechtzeitig vor Einbruch der Polarnacht alle Messstationen auf dem Eis aufbauen müssen.
Das Meereis ist im arktischen Winter so dick, dass selbst die POLARSTERN es nicht durchbrechen kann. Wie werden Sie sich fortbewegen?
In der Arktis driftet die Eisschicht vom sibirischen Sektor der Arktis über den Nordpol hinweg bis in den Bereich von Grönland und Spitzbergen. Fest eingefroren in das Eis driften die POLARSTERN und unser Netzwerk von Messstationen dann passiv mit dem Eis quer durch die ganze Arktis, bis wir irgendwann im Jahr 2020 in der Nähe von Grönland wieder aus dem Packeis rauskommen. Wir verbringen einen Großteil der Zeit im direkten Polbereich nördlich von 85 Grad Nord. Spitzbergen und das Nordkap liegen viel weiter südlich. Wir werden so weit im Norden sein, dass wir kaum noch Nordlichter sehen werden – denn der Polarlichtgürtel liegt weiter südlich.
Was erhoffen Sie sich von der MOSAiC-Expedition?
Wir erhoffen uns ein besseres Verständnis des Klimawandels in der Arktis. Die Arktis ist quasi das Epizentrum der Erderwärmung. Unsere Klimamodelle bilden die dramatische Erwärmung bisher aber nicht realistisch ab. Für genauere Modelle müssen wir das Klimageschehen in der zentralen Arktis besser verstehen. Nur so können wir zuverlässig vorhersagen, wie sich das Klima in der Arktis in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird. Das klingt jetzt so, als hätten hauptsächlich Eisbären Interesse an unserer Forschung. Doch das stimmt nicht, denn was in der Arktis an Veränderungen passiert, bleibt nicht in der Arktis: Die Arktis ist eng mit dem Wettergeschehen in unseren Breiten gekoppelt. Somit können wir den Klimawandel bei uns nur dann prognostizieren, wenn wir die Arktis verstehen.
Mit welchen drei Begriffen würden Sie die MOSAiC-Expedition beschreiben?
Bahnbrechende Wissenschaft, wegweisende Polarlogistik und ein Musterbeispiel internationaler Kooperation zur Klärung drängender Fragen der Menschheit.
Sie überwintern in einer Region, die in der Polarnacht nahezu unerreichbar ist. Vor welchen logistischen Herausforderungen stehen Sie?
Die logistischen Herausforderungen sind gigantisch: Auf der Mission kommen insgesamt fünf Eisbrecher zum Einsatz – neben der POLARSTERN noch zwei russische Eisbrecher, ein schwedischer und ein chinesischer Forschungseisbrecher. Außerdem nehmen wir mehrere deutsche und russische Helikopter mit. Außerdem steuert Deutschland die beiden Polarflugzeuge POLAR 5 und POLAR 6 bei, die zum ersten Mal umfangreiche Messflüge in der zentralen Arktis unternehmen sollen. Für die Flugzeuge präparieren wir sogar eine Landebahn auf dem Meereis, sodass sie in der Nähe der POLARSTERN landen und tanken können.
Wie baut man eine Landebahn auf dem arktischen Eis?
Das Eis der zentralen Arktis ist leider keine glatte Oberfläche. Kollidierende Eisschollen falten sich auf, die aus solide gefrorenem Eis bestehen. Wir sind gerade dabei, Raupenfahrzeuge, Pistenbullys und spezielle Fräsen zusammenzustellen, mit denen wir diese Presseis-Rücken abfräsen und planieren können.
Wer versorgt denn die Neumayer-Station in der Antarktis, wenn die POLARSTERN ein Jahr lang auf der MOSAiC-Mission im Einsatz ist?
Dafür werden wir von einem unserer Partner in der Polarforschung einen Eisbrecher chartern, der Personen und Lieferungen zur Neumayer-Station bringt.
Wenn wir mal einen Blick in die Geschichte der Polarforschung werfen – in wessen Tradition steht diese Entdeckungsreise?
Unsere Expedition steht eindeutig in der Tradition des großartigen Polarforschers Fridtjof Nansen. Nansen hat vor 125 Jahren auf einer spektakulären Expedition die Eisdrift entdeckt: Mit dem hölzernen Forschungsschiff FRAM ließ er sich damals im Eis einfrieren und trieb dann drei Jahre lang quer durch die Arktis. Er hat also gezeigt, dass es geht. Weil er damals keinen Eisbrecher hatte und das Eis langsamer driftete, dauerte die FRAM-Expedition ganze drei Jahre. Nansen hat damals Pionierarbeit geleistet und ist so weit in die Arktis vorgedrungen wie kein Mensch vor ihm. Mehr als ein Jahrhundert später wiederholen wir, was Fridtjof Nansen uns als großer Pionier vorgemacht hat und führen die ersten umfassenden Messungen seit 125 Jahren durch.
Vergleichen Sie Ihre Messungen dann mit denen von Fridtjof Nansen?
Natürlich, soweit das möglich ist. Doch die Messungen waren zu der Zeit sehr begrenzt: Das Instrumentarium umfasste im Wesentlichen ein paar Thermometer und einfache Wasserschöpfer. Die MOSAiC-Mission ist ungleich besser ausgerüstet: Wir nutzen die besten Messinstrumente, Eisbrecher und Polarflugzeuge, die es heute auf der Welt gibt.
Welche Veränderungen erwarten Sie gegenüber den Messungen vor 125 Jahren?
Es wird jetzt wärmer sein und die Eisdicke wird deutlich geringer sein. Auf unserer Forschungsstation auf Spitzbergen haben wir allein in den vergangenen 20 Jahren im Winter eine Klimaerwärmung von sechs Grad gemessen. Deshalb erwarten wir in der zentralen Arktis deutlich höhere Temperaturen, als das, was Fridtjof Nansen dort 1893-1896 erlebt hat. Wir rechnen im Winter mit Temperaturen von minus 35 bis minus 45 Grad Celsius.
Was zeichnet Entdecker wie Sie und Herrn Nansen aus?
Die große Neugier. Wir wollen wissen, wie die Dinge funktionieren und dafür müssen wir hin und sie angucken. Ich bin sehr neugierig darauf, wie der Wärmeaustausch durch Eisspalten in der zentralen Arktis abläuft und freue mich unheimlich darauf, die komplexen Klimaprozesse dort zu erforschen.
Was werden Sie auf dieser Expedition erleben, was Sie noch nie zuvor erlebt haben?
Ich war noch nie drei Monate am Stück in der zentralen Arktis und im Winter in Nordpolnähe schon mal gar nicht – das war noch kaum jemand. Außerdem wird es eine ganz neue Erfahrung sein, dass das Schiff nicht fährt, sondern passiv der Drift des Eises ausgeliefert ist. Ich werde zum ersten Mal erleben, wie wir ein derart umfassendes Instrumentarium und Stationsnetzwerk auf dem Eis aufbauen und alle wesentlichen Prozesse dort parallel beobachten können.
Was bereitet Ihnen das größte Kopfzerbrechen?
Medizinische Notfälle und die Eisdrift. Es gibt einen Punkt nördlich von Grönland, wo sich die Eisdrift aufteilt. In die eine Richtung geht es zur Framstraße gen Grönland, die andere Abzweigung führt in den Beaufortwirbel, wo sich die Eisdrift einige Jahre lang im Kreis dreht. Wenn wir dort hineingeraten, würden wir eine ganze Weile nicht mehr so leicht herauskommen. Aber das Risiko dafür können wir durch sorgfältige Planung sehr klein halten. Für den Fall eines medizinischen Notfalls haben wir mit Treibstoffdepots auf arktischen Inseln Vorkehrungen getroffen, um mit Langstreckenhelikoptern Evakuierungen durchführen zu können. Das Alfred-Wegener-Institut hat eine unvergleichliche Erfahrung mit der Durchführung solch komplexer Operationen in den Polargebieten.
Woran könnte die Expedition scheitern?
Scheitern kann sie inzwischen eigentlich fast gar nicht mehr, es sei denn, die POLARSTERN erleidet noch kurz vor dem Start einen größeren Maschinenschaden. Dann würde sich der Expeditionsstart verzögern und wir würden bereits beim Aufbau weit in die Polarnacht kommen.
Wenn Sie sich jetzt ins Jahr 2020 versetzen – wie müsste die Expedition bis dahin verlaufen sein, damit Sie sagen, dass sie ein Erfolg war?
Aus der Perspektive vom Sommer 2020 gesprochen: Der Aufbau hat funktioniert und alle Versorgungsfahrten konnten die POLARSTERN erreichen. Wir sind dicht am Nordpol vorbeigedriftet und befinden uns nördlich der Framstraße. Unsere wissenschaftliche Ausrüstung ist nicht unerwartet im aufbrechenden Eis versunken. Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gesund und gewinnen täglich neue Messergebnisse und gelangen zu bahnbrechenden Erkenntnissen über eine der entlegensten Regionen unseres Planeten. Dann wäre ich ein sehr zufriedener Forscher.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Rex. Wir wünschen Ihnen eine erfolgreiche Expedition.