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Wie radikal ist unsere Jugend? : Datum: , Thema: extremismusforschung

Der Fall Halle zeigt: Wir brauchen mehr Wissen darüber, wie Extremismus entsteht. Genau hier setzt das BMBF-geförderte Projekt „RadigZ“ an. Erste Ergebnisse deuten nun darauf hin: Schon in Schulen sind radikale Ansichten keine Einzelfälle.

Radikalisierung
Wie anfällig sind Jugendliche für extremistisches Gedankengut? Das erforschen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Projekt "RadigZ". © Getty Images / ideabug

Der Angriff auf eine jüdische Gemeinde in Halle erschüttert Deutschland: Am 9. Oktober versucht ein rechtsextrem motivierter Attentäter mit Waffengewalt in eine Synagoge einzudringen – doch er scheitert an der Tür. In der Nähe erschießt er kurz darauf zwei Menschen, zwei weitere werden später von ihm verletzt. „Diese Tat ist ein Angriff auf die Werte, ja die Identität unseres Landes“, sagt Bundesministerin Anja Karliczek dazu im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Und sie mahnt: „Wir brauchen eine intensive Auseinandersetzung, was der Nährboden für eine solche Tat ist.“ Genau damit befassen sich Forschende des Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KFN) im Verbundprojekt „Radikalisierung im digitalen Zeitalter – Risiken, Verläufe und Strategien der Prävention“ (RadigZ), das vom Bundesforschungsministerium bis Februar 2020 gefördert wird.

Methodik

Die Studie basiert auf einer quantitativen Mehrthemenbefragung von Schülerinnen und Schülern der 9. Klassen, die computergestützt und im Klassenverbund an verschiedenen Standorten in Deutschland durchgeführt wurde. Die Befragungen fanden von Januar bis Dezember 2018 statt. Insgesamt wurden die Antworten von 6715 Schülerinnen und Schülern ausgewertet.

Die RadigZ-Forschenden wollen unter anderem herauszufinden, wie viele Jugendliche anfällig für extremistisches Gedankengut sind und was sie dafür empfänglich macht. Von Risikofaktoren sprechen die Forschenden dabei. In einem RadigZ-Teilprojekt haben die Kriminologen Lena Lehmann, Laura-Romina Goede und Carl Philipp Schröder dafür fast 7000 Schülerinnen und Schüler mehrheitlich zwischen 14 und 15 Jahren nach ihrer Sicht auf Religion, Politik und Gemeinschaft befragt. Ein Schwerpunkt dabei war die Radikalisierung. Die komplette Studie können Sie hier nachlesen. (PDF, 2MB, Datei ist nicht barrierefrei)

Extremismus gehört zum Schulalltag

Zwar ist die Studie nicht repräsentativ – also nicht für alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland aussagekräftig –, doch sie deutet darauf hin: Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus und Linksextremismus gehören zum Schulalltag. „Fast jeder zehnte Befragte hat schon mindestens einmal eine Person aufgrund ihrer ausländischen Herkunft gehänselt oder beschimpft“, sagt Lena Lehmann. Von den  muslimischen Jugendlichen haben das bereits 7,9 Prozent schon einmal bei Andersgläubigen getan.

Im Bereich des Islamismus umfasst die Risikogruppe 1,5 Prozent. Schülerinnen und Schüler dieser Gruppe teilen zum einen extreme Einstellungen. Zum anderen haben sie diese Einstellung mindestens einmal in einer extremen Handlung ausgelebt. Darunter fällt sowohl körperliche als auch verbale Gewalt. Im Linksextremismus konnten die Forschenden aus messtheoretischen Gründen keine Risikogruppe ausmachen – etwa 4,1 Prozent der Befragten teilen jedoch linksextreme Ansichten. Beim Rechtsextremismus umfasst die Risikogruppe 2,8 Prozent. Das heißt: „Etwa drei von einhundert Schülern sind rechtsextrem eingestellt und sie haben schon mindestens einmal rechtsmotiviert gehandelt“, erklärt die Expertin.

Werden Menschenrechte verletzen, ist eine Grenze überschritten

Doch wie misst man eigentlich Extremismus? „Hierbei ist sich auch die Fachwelt nicht einig“, wie Carl Philipp Schröder erklärt. „Die Methoden sind umstritten und es gibt noch viel Forschungsbedarf“, sagt er. Die RadigZ-Forschenden haben sich der Fragestellung daher mit unterschiedlichen Methoden genähert. Vereinfacht gesagt, haben sie unterschiedliche Definitionen von Extremismus genutzt und nach Einstellungen und Handlungen der Jugendlichen gefragt. „Wenn Schülerinnen und Schüler Gewalt befürworten und Aussagen zustimmen, die Menschenrechte verletzen und den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen, ist eindeutig eine Grenze überschritten“, erklärt Schröder.

Interessanter als das „Wie viele?“ war für die Forschenden jedoch das „Warum?“ – denn hier gilt es, mit Prävention anzusetzen. „Wir haben daher auch den Einfluss verschiedener Vulnerabilitätsfaktoren untersucht“, berichtet Laura-Romina Goede. Konflikte in der Familie, Gewalterfahrungen und gewaltlegitimierende Männlichkeitsbilder, politisches Desinteresse: All das geht mit extremistischen Ansichten einher. „Wer sich in Videos oder auf Webseiten Gewalt anschaut, neigt eher zu extremen Einstellungen. Gleiches gilt für Jugendliche, die sich wenig für Politik interessieren und alle Inhalte auf Facebook und Co. für glaubhaft halten“, schildert Goede ein Ergebnis der Umfragen.

Es gibt nicht nur einen Grund für Extremismus

Doch das alles ist kein Muss, wie die Forschenden herausfanden: „Wir konnten meist nur schwache Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren und Extremismus feststellen“, sagt Lehmann. „Es gibt also nie den einen Grund für extremistische Einstellungen.“ Vielmehr sei es ein komplexes Zusammenwirken vieler individueller Faktoren, so die Expertin. Genau hier müsse man mit Präventionsprojekten ansetzen, meinen die Kriminologen daher. „Wir müssen weg vom Gießkannenprinzip – also nicht mehr nur zeitlich begrenzt einzelne Präventionsprojekte in den Schulen anbieten“, sagt Lehmann. Langfristige Projekte zu ganz speziellen Themen seien deutlich besser geeignet. Kritische Medienkompetenz fördern, den Umgang mit Gewalt lernen, den Zusammenhalt der Schülerinnen und Schüler gezielt stärken: „Darauf kommt es an, wenn wir Extremismus schon vor dem Schultor stoppen wollen“, so Lehmann.

Radikalisierung im digitalen Zeitalter

RadigZ wird im Programm „Forschung für die zivile Sicherheit 2012 – 2017“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Insgesamt sind acht verschiedenen Forschungseinrichtungen an dem Verbundprojekt beteiligt. Die Projektlaufzeit ist auf drei Jahre festgeschrieben (Februar 2017 bis Februar 2020).

Die Studie von Lena Lehmann, Laura-Romina Goede und Carl Philipp Schröder wurde vom KFN im Teilvorhaben „Ermittlung des Gefahrenpotentials und Identifikation vulnerabler Gruppen“ durchgeführt. Die komplette Studie können Sie hier nachlesen. (PDF, 2MB, Datei ist nicht barrierefrei) Kompakt zusammengefasste Ergebnisse finden Sie hier. (PDF, 902kB, Datei ist nicht barrierefrei)