"Luther hat ein völlig neues Bildungsethos geschaffen" : Datum: , Thema: Bildung
Der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel über die Reformation als gesamtgesellschaftliche Emanzipationsbewegung, die Freiheit der Forschung und Luthers Einfluss auf Schulen und Universitäten. Ein Interview mit bmbf.de
Herr Rachel, was ist für Sie der wichtigste Grund, das Reformationsjubiläum zu feiern?
Thomas Rachel: Das 500-jährige Reformationsjubiläum bietet eine einmalige Gelegenheit, die gesamt-kulturelle Bedeutung der Reformation neu ins Bewusstsein zu rufen. Die Reformation ist keineswegs nur ein kirchliches und theologisches, sondern ein universales Ereignis unserer deutschen und europäischen Geschichte mit weitreichenden und letztlich weltweiten, wirkungsgeschichtlichen Folgen. Die Reformation war auch eine gesamtgesellschaftliche Bildungs-, Freiheits- und Emanzipationsbewegung. Sie ist ein unverlierbarer Teil unseres geistigen Erbes und unserer kulturellen Identität.
Das Vermächtnis Luthers reicht also weit über kirchliche Veränderungen hinaus?
Und ob, man darf sich nicht allein auf die Einzelperson Martin Luther fokussieren. Luther hat zwar gewissermaßen die „Initialzündung“ für die Reformation gegeben, aber unzählige andere Reformatoren haben neben und nach ihm wesentliche und unverzichtbare Beiträge zum Erfolg und zur Ausbreitung der Reformation geleistet. Man denke beispielsweise an Melanchthon, Calvin oder Zwingli. Es sind viele Schultern, die die Reformation ermöglicht, getragen und weiter geführt haben. Das zeigt sich vor allem am reformatorischen Bildungserbe insgesamt, das ja in den letzten 500 Jahren von unzähligen evangelischen Denkern immer wieder neu formuliert und fortgeschrieben worden ist. Die Ahnengalerie reicht von den großen Gestalten des Reformationsjahrhunderts über Namen wie Comenius, Pestalozzi, Kant, Schleiermacher, Hegel und Wichern bis hin zu den Denkern unserer Zeit.
Luther wollte, dass ihn jeder verstand – nicht nur Adel und Klerus. Was schätzen Sie als Bildungspolitiker an seinem Begriff von Bildung?
Mit der vollständigen Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache und dem Kleinen und Großen Katechismus hat Martin Luther zu seiner Zeit einerseits den entscheidenden Grundstein für ein völlig neues Bildungsethos gelegt, nämlich dasjenige des mündigen, urteilsfähigen und seinen Glauben selbst reflektierenden Christenmenschen im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Zum ersten Mal wurden auch die Gottesdienste in deutscher Sprache für jedermann verständlich - und Predigt und Kirchengemeindelieder rückten ins Zentrum. Andererseits ist dieses Bildungsideal keineswegs nur im rein individuellen oder kirchlichen Bereich verblieben, sondern wurde zugleich zum Motor einer neuen gesellschaftlichen und sozialen Bildungsverantwortung: Mit seiner Schrift von 1524, "An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen", legte er – vor dem Hintergrund geradezu katastrophaler Bildungszustände - die Grundlage für das spätere, öffentliche Schulwesen in Deutschland.
Das heißt, Schul- und Hochschulpolitik sind bis heute von ihm beeinflusst?
Gewiss, allerdings kann man hier schwerlich ganz gerade genealogische Linien von Luther bis zu uns ziehen, und es gibt eine Vielzahl von geschichtlichen Vermittlungsstufen, die es zu berücksichtigen gilt. Insbesondere in der Aufklärungsepoche veränderte sich natürlich auch das reformatorische Denken noch einmal in bedeutsamer Weise. Das ist aber im Übrigen auch die Stärke des reformatorischen Denkens, das ja letztlich davon ausgeht, dass die geschichtlichen Wandlungsprozesse und Veränderungen in jeder Zeit andere und neue Antworten erfordern. Außerdem sollte man hier keine falschen oder gar konfessionalistischen Engführungen betreiben: Denn es ist natürlich das gesamtchristliche Erbe, das Europa bereits seit dem frühen Mittelalter bildungsmäßig tief und nachhaltig geprägt hat. Bereits die katholischen hohen Schulen und Klöster, die Luther polemisch als „Eselsställe und Teufelsschulen“ bezeichnete und bekämpfte, haben genauso ihren berechtigten Anteil daran, wie zum Beispiel die abendländischen Universitätsgründungen, die ohne Kirche und Theologie undenkbar gewesen wären.
Ein Wandel der Universitäten?
Man kann sagen, dass die Universitäten gewiss einen wichtigen Transformationsschub durch die Reformation erfahren haben, und zwar institutionell wie ideell. Die Landesherren wurden – im Zuge der Herausbildung der neuzeitlichen Territorialstaaten – nun selbst zu Gründern und Trägern von Universitäten und auch die neu etablierte Kultur der engen Verzahnung von Pfarramt und akademischer Ausbildung waren wichtige Schritte hin zum modernen staatlichen, säkularen und öffentlichen Bildungsverständnis. Ideell betrachtet ist es vor allem die entschiedene Betonung der Bildungsaufgabe und freien Mündigkeit jedes Einzelnen, das dieses neue reformatorische Bildungsethos auszeichnet.
Sie haben die Bibelübersetzung erwähnt. Welche Rolle spielt dabei die deutsche Sprache?
Es lässt sich gewiss ohne Übertreibung sagen: Die Bibelübersetzung Martin Luthers schuf die entscheidende Grundlage für unsere moderne deutsche Sprache und prägte in außerordentlicher Weise die neuzeitliche deutsche Literatur- und Kulturgeschichte. Kein Goethe, kein Schiller, kein Kant und kein Schleiermacher, aber auch kein Bach und kein Mendelssohn-Bartholdy ohne Luther und die Reformation!
Einen gewaltigen Schub brachte die Reformation vor allem für die Wissenschaft. Was fasziniert Sie dabei am meisten?
Die Freiheit der Forschung vor jeder unsachgemäßen und fachfremden Bevormundung wurzelt für mich genuin im protestantischen Freiheitsverständnis und in dem durch die Rechtfertigungslehre begründeten Menschenbild. Wissen und Bildung sind entscheidend für die Fähigkeit eines jeden Menschen, Mündigkeit zu erlangen, sich für die eigenen Rechte einzusetzen und sich gemeinschaftlich für grundlegende Rechte anderer einsetzen zu können. Es ist also nicht nur ein entscheidendes Instrument zur Teilhabe, sondern auch ein elementares Menschenrecht. Deshalb unterdrücken alle totalitären Ideologien und Glaubenssysteme nicht zuletzt immer auch die Freiheit der Bildung und Forschung. Nach evangelischem Verständnis ist der Mensch aber selbst als bildsames Wesen der zentrale Mittel- und Bezugspunkt. Bildung soll ihm helfen, seine von Gott geschenkten Fähigkeiten zu erkennen, zu entfalten und zum Wohle aller einzubringen. Dieses reformatorische Bildungsverständnis hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder entscheidende Impulse - auch nicht zuletzt für unser heutiges säkulares Verständnis des Rechtes auf umfassende Bildung und Teilhabe - zu geben vermocht.
Von Kaiser und Papst hielt Luther bekanntlich nicht viel, stattdessen sprach er von Gewissensfreiheit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen. Was bedeutet das für Sie als Politiker?
Ein evangelisches Bildungs- und Forschungsverständnis ist ohne persönliche Wissens- und Gewissensbildung schlechterdings undenkbar. Das prägt mich persönlich als Christ in der Politik in ganz grundlegender Weise. Als Bildungspolitiker weiß ich darüber hinaus aber auch, dass ein im Glauben begründeter, persönlicher Existenzvollzug und ein ganzheitliches und säkulares Verständnis menschlicher Bildung keineswegs Gegensätze darstellen. Das genaue Gegenteil ist nach protestantischer Überzeugung vielmehr der Fall, und beides gehört – bei aller nötigen Differenzierung – immer zusammen. Das Dilemma unserer säkularisierten Moderne und mancher politischer Werte-Diskussionen ist meines Erachtens allerdings durchaus, dass diese tiefen Zusammenhänge bei vielen Menschen - und auch vielen Politikern - heutzutage nicht mehr ganz im Bewusstsein sind. Gerade in der Ethik wird immer wieder vergessen, dass Glaube und Religion entscheidende und unverzichtbare Quellen und Ressourcen der Wertebildung und Wertebindung darstellen. In der EKD-Denkschrift „Maße des Menschlichen“ heißt es sehr treffend: „Die Frage nach Gott ist für zeitgemäße Bildung unabdingbar, da sie vor absolutierendem Denken und Handeln schützt.“ Politisch gesehen gehört daher nach meiner festen Überzeugung der Religionsunterricht an die öffentlichen Schulen und die wissenschaftlichen Theologien an die universitären Fakultäten.
Das Reformationsjubiläum wird mit vielen Veranstaltungen, Kongressen und Projekten gefeiert. Welche ragt für Sie heraus?
Besonders wichtig finde ich die Summer School 2017 in Wittenberg, die vom Evangelischen Studienwerk Villigst und vielen Partnern organisiert wurde. Unter dem Motto „Es reicht. Was mich angeht“ wurde ein vielfältiges Seminarprogramm für mehr als 500 Studierende und Promovierende angeboten. An dem Programm arbeiteten alle 13 Begabtenförderungswerke gemeinsam aktiv mit. So etwas hat es in dieser Form bisher noch nicht gegeben. Außerdem sind weitere Institutionen - DAAD, Hochschulen, Arbeiterkind.de - beteiligt gewesen. Die vierwöchige Summer School steht für ein interdisziplinäres, werke- und länderübergreifendes Zusammenarbeiten. Gesellschaftliche Zukunftsfragen sollten gemeinsam von den zukünftigen Verantwortungsträgern aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert werden. Das Seminarprogramm wurde von einem Rahmenprogramm begleitet, das den Dialog zwischen den Teilnehmern stärken sollte und Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch und internationaler Vernetzung bot. Auch das Bundesforschungsministerium gehörte zu den Förderern der Summer School 2017.