"Eine Alzheimer-Erkrankung lässt sich positiv beeinflussen" : Datum: , Thema: Forschung
Der Demenz-Wissenschaftler Frank Jessen über die Fähigkeit des Gehirns, sich zu regenerieren, positive Entwicklungen in den Industrieländern und darüber, was Angehörige gegen die Krankheit tun können. Ein Interview mit bmbf.de
bmbf.de: Herr Jessen, derzeit sind etwa eine Million Deutsche an Alzheimer-Demenz erkrankt. In den nächsten 20 bis 30 Jahren wird eine Verdoppelung dieser Zahl erwartet: Wie kommt das?
Frank Jessen: Alzheimer-Demenz ist in erster Linie eine Alterserkrankung. In der Gruppe der 80-Jährigen erkrankt etwa jeder Fünfte an Demenz. Bei den 90-Jährigen ist es schon jeder Zweite. Da die Lebenserwartung der Menschen Jahr für Jahr steigt, wird die Krankheit auch vermehrt auftreten.
…das klingt nach einer dramatischen Entwicklung.
Nicht zwangsläufig. Besonders in den westlichen Industrieländern konnten wir in den vergangenen Jahren einen positiven Effekt feststellen: Es gibt deutlich weniger Neuerkrankungen als noch vor einigen Jahren.
Woran liegt das?
Sie müssen sich Demenz wie eine Waage vorstellen. Auf der einen Seite verschlechtert sich die Gedächtnisleistung, auf der anderen Seite steht als Gegenspieler die sogenannte Neuroplastizität. Das ist die Fähigkeit des Gehirns, sich zu regenerieren oder neu zu strukturieren. Ein gesundes Ernährungsverhalten, ein starkes Herz-Kreislaufsystem, bessere Bildung: All das regt die Neuroplastizität an. Und da die Menschen in den Industrieländern immer gesünder leben, sind sie besser vor der Erkrankung geschützt.
Das heißt, durch einen gesunden Lebensstil lässt sich der Krankheitsverlauf verlangsamen. Woran erkennen Betroffene, dass sie erkrankt sind?
Eine Demenzerkrankung entwickelt sich schleichend – meist über 20 Jahre, ohne dass man etwas davon bemerkt. Wenn Gedächtnis- oder Orientierungsstörungen in auffälliger, regelmäßiger Weise auftreten, ist das ein erstes Anzeichen. Allerdings wird das Gedächtnis auch bei Gesunden im Alter schwächer. Im Frühstadium ist die Krankheit daher sehr schwer zu erkennen.
Ihr Fachgebiet ist die Früherkennung: Ab wann können Sie eine Alzheimer-Erkrankung feststellen?
Zwischen der schleichenden Entwicklung und dem Übergang zur Alzheimer-Erkrankung liegen meist etwa fünf Jahre. In dieser Zwischenphase können wir die Krankheit bereits sehr gut diagnostizieren.
Wie gelingt Ihnen das?
Technikgestützt, also mit bildgebenden Untersuchungsverfahren wie MRT- oder PET-Diagnostik, oder anhand des Liquors, auch Nervenwasser genannt, können wir Veränderungen im Gehirn feststellen, die mit der Alzheimer-Erkrankung einhergehen – beispielsweise die Ablagerung von Eiweißen, den sogenannten Amyloid-Plaques. Andererseits gibt es Tests, mit denen wir die geistige Leistungsfähigkeit, das Gedächtnis, die Sprache oder Orientierung prüfen können. Ist das Ergebnis der Testperson unter der Altersnorm, ist das ein Anzeichen für eine beginnende Demenz.
Die Wissenschaft versucht in die „schleichende“ Phase vorzustoßen: Wie stehen die Chancen, Alzheimer-Demenz eines Tages schon in dieser Phase zu erkennen?
Mittels Beobachtungsstudien versuchen wir dorthin zu kommen. Beispiele sind das Kölner Alzheimer Präventionsregister oder die DELCODE-Studie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen. Wir untersuchen freiwillige, gesunde Menschen über lange Zeiträume, um zu lernen, wie sich das Gehirn über mehrere Jahre entwickelt. Wir erhoffen uns davon, herauszufinden, was Vorboten der Erkrankung sind und an welchen Punkten wir präventiv eingreifen können.
Sie beschreiben das Forschungsziel. Wie geht es danach weiter – wie gelingt der Transfer in die Praxis?
Die medizinischen Fachgesellschaften bringen regelmäßig alle Akteure, die mit der Erkrankung zu tun haben, an einen Tisch: Auf Grundlage der neuesten Forschungsergebnisse erarbeiten diese dann gemeinsam Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie – die sogenannten Leitlinien. Über Publikationen, Fachvorträge oder -tagungen finden diese Einzug in die Praxis.
Das alles trägt zur Qualität der Patientenversorgung bei. Letztlich ist die Alzheimer-Demenz aber noch unheilbar. Wie können Angehörige von Betroffenen mit dieser Herausforderung umgehen?
Es ist wichtig, dass die Angehörigen die Defizite des Erkrankten verstehen und annehmen. Dabei können Ärzte und Pfleger oder Beratungsstellen sie unterstützen. Zudem können auch Angehörige die bereits erwähnte Neuroplastizität anregen: Soziale Interaktion und Integration, körperliche und geistige Aktivität, ausgewogene Ernährung tragen dazu bei. Zwar lässt sich so das Grundproblem, also die Alzheimer-Demenz, nicht lösen – aber der Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.