Die Vermessung des Landes : Datum: , Thema: Buergerforschung
Über Dörfer hat fast jeder eine Meinung: Keine Ärzte, keine Busse, keine Arbeit! Doch wie es wirklich ist, wissen nur die Menschen vor Ort. Um deren Wissen geht es im Bürgerforschungsprojekt „Landinventur“. Das Ziel: Ein alltagsnahes Bild des Landes.
Dem „ländlichen Raum“ geht es schlecht, meinen Viele. Straßen verfallen, Busse fahren zu selten, Ärzte sind oft unerreichbar, es gibt keine Arbeit, junge Menschen zieht es in die Städte, die Wirtschaft stagniert. So die gängigen Vorurteile. „Den ländlichen Raum gibt es gar nicht“, meint hingegen Eleonore Harmel vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung. Von einer allgemeinen Krise könne nicht die Rede sein: „Jedes Dorf ist anders, es hat seinen eigenen Charakter – und vor allem: Engagierte Menschen, die ihre Ortschaften einzigartig machen“, sagt die Stadt- und Regionalplanerin. Diese Komplexität ist jedoch in der Wahrnehmung vieler Menschen verschwunden. Sie geht in groben und veralteten Statistiken, den Verwaltungsstrukturen und großflächigen Beschreibungen des „ländlichen Raums“ unter.
Die Dörfer müssen als kleinste Einheit des Zusammenlebens „zurück“ auf die Landkarte, dachten sich daher Harmel und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung. Seit 2018 rufen sie im Bürgerforschungsprojekt „Landinventur“, das vom Bundesforschungsministerium gefördert wird, zur Neuvermessung des Landes in Mecklenburg-Vorpommern auf. Dafür haben die Forschenden gemeinsam mit Dorfbewohnerinnen und -bewohnern eine digitale Plattform entwickelt, auf der sie die Ergebnisse ihrer Inventur festhalten.
Wissen der Dorfbewohner ist ein Schatz
Leben, Ernten, Wirtschaften, Engagement: Zu diesen Themen haben die Forschenden gemeinsam mit den sogenannten „Dorfbotschaftern“ Fragebögen entworfen. Sie sollen helfen, ein möglichst alltagsnahes Bild des Dorflebens zu zeichnen. Wie viele Menschen leben wirklich dauerhaft im Ort? Wer pendelt zwischen Stadt und Land? Wie alt sind die Dorfbewohner? Wer baut im Garten Gemüse an – und bei wem ist der Garten nur Zier? Welche Tiere werden noch im Dorf gehalten? Gibt es Gewerbe und Breitbandinternet? Wer engagiert sich wo, welche Feste werden gefeiert? „Für all das sind die Dorfbewohner die Experten. Ihr Wissen ist ein echter Schatz – von außen könnten wir niemals solche tiefen Einblicke erhalten“, sagt Harmel.
Die Ergebnisse der Landinventur können später in Konzepte zur Regionalentwicklung einfließen oder als Auftakt für lokale Zukunftswerkstätten dienen. Und sie sollen der Politik und Öffentlichkeit zeigen: Das Land ist komplex – wer Probleme angehen möchte, muss stets auf die kleinste gesellschaftliche Einheit blicken. Harmel sieht die Landinventur zudem als „ersten Schritt“, damit die Bewohner neu über ihr Dorf nachdenken. „Was brauchen wir wirklich? Was ist bereits gut und was lässt sich verbessern? – all das sieht man nach der Inventur klarer“, ist sie sicher.
Jedes Dorf wird mit seinem „Charakter“ sichtbar
Noch bis Ende des Jahres sind Eleonore Harmel und Co. mit ihrer mobilen Forschungsstation – einem alten Wohnwagen – in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs, um Daten mit den Dorfbewohnern vor Ort zu sammeln. Gleichzeitig kann jeder sein Dorf über die digitale Plattform selbst kartieren. All diese Daten werden dann in der Landinventur-Karte auf der Projektplattform sichtbar. Über 50 Dörfer sind dort bereits verzeichnet. „Wir wollen die Forschungsergebnisse direkt zeigen. So kann sich jeder selbst ein Bild über die Vielfalt der Dörfer machen“, sagt Harmel.
Wie genau die Daten weitergenutzt werden, wird bis Ende des Jahres ausgelotet. Auf jeden Fall sollen sie helfen, das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert besser zu beschreiben. Zudem sollen auch andere Akteure wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Menschen aus der Landesplanung und Politik von dem Wissen profitieren. Doch klar ist bereits jetzt: Jedes der fast 6000 Dörfer in Mecklenburg-Vorpommern entwickelt sich anders – mit all seinen guten und schlechten Seiten. Und diese Entwicklung wird von Menschen getragen, die sich für ihr Dorf engagieren und das organisieren, was es für ein gutes Leben vor Ort braucht. Und darüber ins Gespräch zu kommen, ist der erste Schritt für zukunftsfähige Dörfer.