Der Klimawandel ist in der Arktis deutlich spürbar : Datum: , Thema: „Arctic Century“ Expedition
Ende Oktober ist der russische Forschungseisbrecher AKADEMIK TRESHNIKOV in Kiel eingelaufen. Geladen hat das Schiff wertvolles Probenmaterial aus der Arktis. Dr. Heidemarie Kassens vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel berichtet über die Erkenntnisse der "Arctic Century"-Expedition.
Frau Kassens, was war das Ziel dieser Expedition?
Der „Arctic Century“ Expedition ist erstmals ein Einblick in das gesamte System der „Neuen Arktis“ gelungen. Wir haben nun eine aktuelle Momentaufnahme des Klimawandels in der eurasischen Arktis – einem Hotspot der globalen Erderwärmung.
Was ist mit der Neuen Arktis gemeint?
Den Begriff der Neuen Arktis haben wir eingeführt, um zu zeigen, dass die Arktis nicht mehr das ist, was sie vor zehn Jahren war. Der Klimawandel hat bereits jetzt zu dramatischen Veränderungen der arktischen Umwelt geführt. Deshalb ist es extrem wichtig, dass wir die zugrundeliegenden Mechanismen verstehen. Um das Gesamtsystem Arktis zu verstehen, haben wir alle Bereiche des Ökosystems Arktis untersucht – die Atmosphäre, die Eisschilde, die Lebenswelten an Land und im Meer, den Ozean und den Meeresboden.
Sie sind Anfang August mit dem russischen Forschungseisbrecher AKADEMIK TRESHNIKOV von Murmansk aus aufgebrochen, wo sie fünf Wochen später auch wieder eingelaufen sind. Wohin genau hat Sie die Expedition geführt und wer hat daran teilgenommen?
Unser Arbeitsgebiet waren die Barentssee, die Karasee und die Laptewsee und die schwer zugänglichen Inselgruppen Franz-Josef-Land und Sewernaja Semlja in der russischen Arktis. Wir waren ein sehr internationales Team: Die insgesamt 59 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen aus 17 verschiedenen Ländern, dementsprechend viele Sprachen wurden auch an Bord gesprochen. Gleichzeitig markiert die "Arctic Century" Expedition das 100-jährige Bestehen des russischen Instituts für Arktis- und Antarktisforschung (AARI).
Welche Erfahrungen haben Sie auf der Fahrt gemacht?
Während wir unterwegs waren, ist am 9. August 2021 der neue Bericht des Weltklimarats, kurz IPCC, erschienen, der festhält, dass der Klimawandel sehr viel schneller und folgenschwerer verläuft als bisher angenommen.
Die Auswirkungen des globalen Klimawandels auf die Arktis haben wir auf der Expedition ganz konkret erlebt: Wir sind davon ausgegangen, dass wir uns warm anziehen müssen. Aber statt Polaranzügen hätten wir in Wirklichkeit gutes Regenzeug viel nötiger gehabt, weil das Wetter ungemütlich nass und nebelig war.
Welche Auswirkungen hatte der Klimawandel auf Ihre Expeditionsroute?
Die Bewegung des Eises über die nördliche Polkappe, die sogenannte Transpolardrift, war ganz anders als erwartet: Normalerweise kann man die Eisdrift von den sibirischen Küsten bis ins europäische Nordmeer sehr gut vorhersagen, aber in diesem Jahr fehlte das Sommereis in der Grönlandsee.
Der Transport von Meereis durch die Framstraße in Richtung Süden führt im Sommer normalerweise zu einer Eiszunge entlang der Ostküste Grönlands. Das Fehlen von Sommereis in diesem Jahr ist auf veränderte Windverhältnisse zurückzuführen, die den Eistransport nach Süden hemmen. Die Großwetterlagen sind jetzt recht variabel im Vergleich zu früher. Eine Folge für uns waren ausgedehnte Packeisfelder in der östlichen Karasee, die wir nicht erwartet haben. Wir hätten das Eis natürlich mit unserem Eisbrecher durchbrechen können, allerdings fehlte uns dafür die Zeit, sodass wir einige Stationen nicht erreichen konnten.
Dennoch haben wir entlang der gesamten Expeditionsroute sowie an 125 Stationen in den Schelfmeeren und auf den Inseln ein umfangreiches Arbeitsprogramm durchgeführt und insgesamt 10.300 Proben genommen – darunter Eisbohrkerne, Sedimente vom Meeresboden, Permafrostböden, winzige Tiere und Pflanzen – die heute zusammen mit unserer Ausrüstung an Bord des Forschungseisbrechers AKADEMIK TRESHNIKOV in Kiel eintreffen werden. Die Auswertung dieser Proben und der Daten wird Monate und Jahre in Anspruch nehmen.
Polarforschung erfolgt unter deutlich schwierigeren Bedingungen als die Forschung bei gemäßigtem Klima. Wie liefen die Landgänge auf die Inseln ab?
Auf den Inseln des Nordpolarmeers sieht es aus wie auf dem Mars: Unberührte und bis auf wenige Forschungsstationen unbewohnte Naturwelten. Die Landungen erfolgten mit einem sehr großen Hubschrauber, der Platz für 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und mehrere Tonnen Fracht hat. Auf den Inseln kann man nicht einfach hin und her laufen, sondern jedes Forscherteam wird von mindestens einem Eisbärenwächter aus den russischen Nationalparks begleitet. Die ganze Region ist sehr bekannt für hungrige Eisbären, die durch das Abschmelzen des Packeises ihren eigentlichen Lebensraum verlieren und nun zunehmend an Land gehen. Die Eisbären können sehr aggressiv sein und man sollte sich durchaus in Acht nehmen.
Auf welche Erkenntnis sind Sie besonders gespannt?
Ein besonderes Erlebnis waren Hubschrauberflüge über die gewaltigen Eiskappen auf den Inselgruppen Sewernaja Semlja und Franz-Josef-Land. Das war sehr spannend und ich habe so etwas selbst noch nie gesehen: Riesige weiße Flächen, die aus bis zu 500 Meter dickem Eis bestehen. Einer dieser Eiskappen haben die Teams vom Alfred-Wegener-Institut und vom Institut für Arktis- und Antarktisforschung bereits in den Jahren 1999 und 2001 einen 724 Meter langen Eisbohrkern entnommen und damit das Klima der vergangenen 3000 Jahre rekonstruiert.
An der gleichen Position konnten die Teams nun zwei neue Eiskerne mit einer Länge von 5,5 und 6,5 Metern erbohren, die uns einen Einblick in die aktuelle Klima- und Umweltgeschichte der letzten 10 Jahre geben werden.
Uns ist es außerdem gelungen, Sedimentkerne vom Meeresboden aus den Fjorden dieser Inselwelten zu gewinnen, die diesmal komplett eisfrei waren. Meine Hoffnung ist, dass wir die Eisbohrungen mit den Sedimentkernen vergleichen können und so Veränderungen der Wechselwirkungen zwischen Ozean und Atmosphäre in Folge der Erderwärmung zeigen können. Anhand dieser Messdaten können Klimamodelle kalibriert werden und in Zukunft noch präziser voraussagen, wie sich die Arktis verändert.
Frau Kassens, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.