Geschichten aus der Zukunft : , Thema: Forschung
Im Ergebnis des Zweiten Foresight-Prozesses entstanden kurze fiktionale Geschichten die erzählen, wie der Alltag im Jahr 2030 aussehen könnte: Wie beeinflusst die Technik unser Leben und in welche Richtung entwickelt sich unsere Alltagswelt?
Mit den „Geschichten aus der Zukunft“ wird anschaulich beschrieben, worum es bei der Strategischen Vorausschau geht. Diese fiktionalen Alltagsgeschichten zeigen mögliche Entwicklungen in der Gesellschaft auf – immer auch mit Blick auf die Relevanz von Forschung und Technologie. Es werden Situationen in der Alltags- wie auch der Berufs- und Bildungswelt im Jahr 2030 vorgestellt: Mobile Assistenzroboter, intelligente Kleidungsstücke, virtuelle Lern- und Erlebnisangebote. Diese „Geschichten aus der Zukunft“ schaffen eine Vorstellung von dem, was kommen kann. Vor allem aber inspirieren sie zu Diskussionen.
Deutschland Selbermachen
Immer mehr Bürgerinnen und Bürger erfinden, fabrizieren, programmieren, modifizieren und reparieren Dinge für sich und andere, statt sie neu zu kaufen. Bis 2030 ist es denkbar, dass freiberufliches Selbermachen eine wichtige Komponente des Wirtschaftens darstellt. Traditionelle praktische Fähigkeiten wie Schneidern, Schustern, Töpfern oder Schweißen könnten in einer solchen Wissens- und Könnensgesellschaft wieder einen hohen Stellenwert gewinnen und sich mit neuen technischen Kompetenzen wie Computerprogrammierung und 3-D-Drucken verbinden. Dies kann Personalisierung und Nachhaltigkeit von Produkten verbessern sowie Selbstverwirklichung, Bildung und sozialen Zusammenhalt stärken und damit zur Entwicklung einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Wirtschaft beitragen.
Werkräume 2030
Ein Morgen im Leben von Tinka, der Gründerin eines WerkRaums, in dem Nachbarschaftshilfe ganz konkret gelebt wird. Hier vernetzen sich Menschen jeden Alters, um Dinge selber zu machen. Sie arbeiten mit Leidenschaft an ihren Projekten.
Im Gang riecht es nach Kaffee, und Tinka grinst, als sie die Tür zum WerkRaum öffnet. Die Mädels aus der Schule nebenan haben es endlich geschafft – der KaffeeBot funktioniert. Sanft blinkend zeigt er seine Arbeitsbereitschaft an, offensichtlich haben die jungen Selbermacherinnen das Problem mit dem optischen Sensor gelost. „Gleich Kaffee machen“, denkt Tinka und bemerkt, dass schon genug da ist – die Schülerinnen haben den Bot mit dem WerkRaum-Kalender gekoppelt. Er wusste also, dass heute eine größere Gruppe kommt.
„Kalender, erinnere mich daran, den Bauplan des KaffeeBots online zu stellen. Oder mach es gleich selbst!“, sagt Tinka. „Aber gerne“, flötet das System. Tinka stutzt und lächelt beeindruckt. „Die Kommunikationsfunktion des Kalenders haben sie auch neu programmiert. Dafür, dass die vier erst ‚keinen Bock‘ auf den Werkunterricht hatten, sind sie jetzt echt engagiert“, freut sie sich.
Glücklicherweise ist die Nutzung der WerkRaum-Datenbank mittlerweile gut geregelt.
Tinka macht ihre Runde und schaltet die Nähmaschinen ein. Heute sollte der Maschinenplatz ausreichen, hat sie doch gestern zwei kaputte Maschinen wieder in Betrieb nehmen können. In beiden fehlten nur zwei Zahnräder, die sie mit ihrem 3D-Drucker schnell nach einer Vorlage aus der virtuellen WerkRaum-Bibliothek angefertigt hat. Glücklicherweise ist die Nutzung dieser Datenbank mittlerweile gut geregelt. Noch vor einigen Jahren gab es oft Ärger wegen vermeintlicher Verletzungen von Schutzrechten. Als Betreiberin eines zertifizierten WerkRaums hat Tinka jetzt kostenlosen Zugriff, und ihre Kunden können aus den Downloads ihrer Designs ein wenig Geld verdienen. Einigen ist es inzwischen sogar möglich, mit Eigenkreationen und Ersatzteilfertigung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Es klopft am Fenster, es ist ihr Stammkunde Ralf, der als einer der Ersten den Wert des Werk-Raumes für nachhaltiges und ökologisches Handeln erkannt hat. Tinka öffnet das Fenster. „Kann ich dir meinen Toaster zum Reparieren hierlassen? Der Toast springt raus, aber fast drei Meter hoch“, lacht Ralf.
Es waren Nachbarn jeden Alters, die strickten, nähten oder Kuckucksuhren bauten.
Gerade Leute wie Ralf achten bei der Wahl ihres WerkRaums auf die Zertifizierung „Grüner Werk-Raum“, für die Tinka Schalldämmungen einbauen hat lassen und damit sogar den Öko-Fußabdruck der ganzen Nachbarschaft hat reduzieren können. „Wer hätte je gedacht, dass ich 2030 schon so etabliert bin“, denkt sie. „Vor fünf Jahren stand ich hier allein mit meinen als Technikfreaks verschrienen Selbermach-Enthusiasten und habe an Platinen rumgebastelt. Wir sahen uns ja selbst als eine exklusive Tech-Community.“ Schnell wurde aber klar, dass viele Menschen ihre Leidenschaft teilten, Dinge selbst zu machen. Es waren Nachbarn jeden Alters, die strickten, nähten oder Kuckucksuhren bauten – die Umweltaktivisten und die programmierenden Senioren. Inzwischen gehen hier alle ein und aus und lernen voneinander.
Endlich kommt auch Axel, der die Schneidergruppe des WerkRaums koordiniert. Er freut sich über den fertigen KaffeeBot. Axel und Tinka kennen sich lange und haben sich schätzen gelernt. Aber zu Beginn war es für beide nicht einfach zusammenzukommen. Axel erinnert sich, wie fremd er sich damals in Tinkas „Technowelt“ fühlte. Als Sozialpädagoge hatte er im Auftrag der Kirchengemeinde nach einem Begegnungsort für Jung und Alt gesucht und dabei vage gehofft, sein Hobby, das Schneidern, einbringen zu können. Dass die Seniorengruppe jetzt mit den coolen Mädchen aus der Nachbarschaft um die Wette schneidert, hätte er sich damals nicht träumen lassen. Tinka zieht sich jetzt in ihr Photonik-Labor zurück, denn bevor sie zu nähen anfängt, muss es wohl 2040 werden.
Selbstbeobachtung und Wohlergehenskompetenz
Das wachsende Interesse von Bürgerinnen und Bürgern, ihren Körper bewusster wahrzunehmen, eröffnet Ansatzpunkte, eine neue, sogenannte Wohlergehenskompetenz zu fördern und zu etablieren. Wohlergehens-Kompetenz bezeichnet das Wissen und das persönliche Empfinden, was guttut und was nicht. Zukünftig wird persönliche Intuition noch stärker mit technisch unterstützter Selbstbeobachtung des Körpers zusammentreffen. Daten zu Körperfunktionen werden durch Sensoren in Kleidung oder Mobilgeräten kontinuierlich erfasst und aufbereitet. Sowohl die Qualität als auch die Quantität der Daten wird durch neue technologische Entwicklungen kontinuierlich steigen.
Neue vernetzte Dienstleistungen 2030
Auch in Zukunft sind die Menschen geteilter Meinung über die Vor- und Nachteile der digitalen Vernetzung. Selbst in den Familien finden sich neben euphorischen auch kritische Stimmen – so auch am Frühstückstisch von Katharina und ihrem Mann Niklas.
Katharina setzt sich mit einem Grüntee zu Niklas an den Frühstückstisch. „Morgen, Schatz“, sagt sie. „Hm. Morgen“, brummelt Niklas und schaut kaum vom InfoTisch auf. „Du kannst dich freuen, wir bekommen eine Rückzahlung.“ Jetzt ist Niklas interessiert. „Eine Mail von der Krankenversicherung: Ich bekomme eine Prämienzahlung für meine gesunde Lebensweise“, erklärt Katharina. „Woher weiß die Krankenversicherung denn, wie gesund du lebst?“„Ach, ich habe denen doch über ’ne App Zugriff auf meine Gesundheitsdaten gegeben – meine Konstitution hat sich demnach verbessert.“ „Ich denke immer noch, es war ein riesiger Fehler, denen totalen Zugriff zu geben.“ „Immerhin gibt’s dafür eine Rückzahlung. Überhaupt lässt sich so für jeden Versicherten ein individuelles Leistungsangebot erstellen. Ich bin stolz auf meine Daten – ich habe sie schon in meiner Gruppe gepostet.“
„Bei deinen Fitnessfreaks?“ „Von wegen Fitnessfreaks. Wir werten gegenseitig unsere Daten aus und geben uns Tipps. Seit Mia die Infos zur Schlafrhythmusverbesserung gepostet hat, schlafe ich wieder ruhiger. Und meine Kondition konnte ich auch verbessern. Und meine Ernährung“, sagt sie mit Blick auf sein Spiegelei mit Speck.
„Wir werten gegenseitig unsere Daten aus und geben uns Tipps.“
„Aber dass inzwischen alles virtuell zusammenläuft, ist dir egal? Deine gesammelten Gesundheitsdaten, sogar die Arztbefunde und Röntgenbilder und dazu deine persönlichen Lebensdaten.“„Und? Ich kann dadurch viel über mich lernen. Mein Leben verbessern. Und auf meine Daten passen die schon auf.“ „Klar, die wollen nur dein Bestes.“ Er zeigt auf einen Artikel. „Der deutsche Weltmarktführer für optische Speichermedien und Cloudlösungen plant, ein Unternehmen für intelligente Sport- und Alltagskleidung zu kaufen. Er möchte eine internationale Größe im daten- und speicherintensiven Health-Care-Bereich werden.“
„Was ist so schlimm daran?“ „Na ja, erst mal nichts. Hier steht, die wollen einen medizinischen Rundumservice bieten. Natürlich analysieren die alle verfügbaren Daten. Am Ende bekommst du eine medizinische Empfehlung.“ „Hört sich gut an. Da müsste ich dann nicht auf mehrere Portale. Was soll das kosten?“ „Keine Ahnung, neben verschiedenen Familien- und Premiumtarifen soll es auch ein von Werbepartnern finanziertes Paket geben. Gesundheitsdaten gegen Werbung. Pah.“
„Aber vor einem Fußballspiel ist Werbung okay?“ „Ich weiß einfach nicht, warum ein Unternehmen, das nichts mit Gesundheit zu tun hat, plötzlich in diesem Bereich tätig wird. Warum soll ich einem Cloud-Anbieter in Gesundheitsfragen vertrauen? Erinnerst du dich an den Datenskandal letztes Jahr? Die Daten von Millionen Nutzerinnen und Nutzern eines amerikanischen Netzwerkes wurden gestohlen. Auch von vielen Promis aus Medien und Politik.“ „Ich bin doch kein Promi!“ „Aber es sind deine Daten, die Rückschlüsse auf deinen Lebensstil zulassen. Damals wurden viele der Betroffenen erpresst – egal, ob berühmt oder nicht.“
„Der Arzt informierte sich über ihre Gesundheitsdaten zur Krankheitsgeschichte.“
„Ich weiß“, gibt sie zu, „aber ich vertraue meinem deutschen Anbieter – der muss doch viel strengere Auflagen erfüllen.“ „Ja, stimmt“, sagt Niklas. „Manchmal ergibt Vernetzung ja auch Sinn. Letzte Woche war bei meinem Arzt eine Touristin, die kein Deutsch oder Englisch sprach. Der Arzt informierte sich über ihre Gesundheitsdaten zur Krankheitsgeschichte. Und mit seinem Übersetzungscomputer konnte er ihr dann schnell helfen. Und wenn meine anonymisierten Daten der Wissenschaft helfen, neue Erkenntnisse über verschiedene Krankheiten zu gewinnen, ist das tatsächlich gut für uns alle.“ „Dann lass dir deinen Kaffee schmecken“, nickt sie Niklas zu.
Lokal handeln - global kooperieren
Schwellenländer galten bisher als die „Werkbänke der Globalisierung“. In Zukunft entwickeln sie sich mehr und mehr zu Denkfabriken und Drehscheiben der Innovation, denn speziell die asiatischen Schwellenländer bilden deutlich mehr Naturwissenschaftler und Ingenieure aus als die USA und Europa. Zusätzlich verfolgen viele dieser Länder nationale Strategien zur Förderung von Innovation und Wachstum, die neben der Bildungs- und Forschungspolitik auch Aspekte wie Steuern, Handel, Industriepolitik, Standards und öffentliche Beschaffung umfassen. Mit dieser räumlichen Verschiebung der Innovationszentren könnte sich die Qualität und Form von Innovation verändern. Neue Massenmärkte entstehen etwa in den schnell wachsenden asiatischen und afrikanischen Metropolen.
Frugale Innovationen 2030
Leonie arbeitet als Elektroingenieurin bei einem mittelständischen Hersteller von Medizintechnik. Ihr erstes größeres Projekt nach dem Studienabschluss führt sie 2030 als Entwicklungsingenieurin für drei Jahre nach Asien. In einem Tagebuch schildert sie ihre persönlichen Eindrücke.
"Was ich hier soll, habe ich gefragt, als man mich herschickte. Mich mit hiesigen Elektroingenieuren vernetzen, hieß es, das Land kennenlernen, die Kunden. Und dann gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen Produkte entwickeln, die vor Ort gebraucht und gekauft werden – und zwar in der Qualität, für die unsere Firma steht.
Aber wir haben doch tolle Produkte, meinte ich. Wir sind Weltmarktführer, in der Fachpresse werden wir gelobt. Und wir verkaufen auch schon in ganz Asien. Ja, hieß es, aber mit leidlichem Erfolg. Wir waren bisher nur in den Ballungszentren mit unserem Vertrieb. Dazu kam, dass an unseren Produkten, die „zu Hause“ so tadellos funktionieren, in Asien plötzlich Defekte auftraten, die wir gar nicht kannten. Offensichtlich benutzt man die Sachen in Asien anders.
Dazu kommen die asiatischen Billiganbieter, die alles, was wir auf den Markt bringen, nach kürzester Zeit viel preiswerter verkaufen – wenn auch in schlechterer Qualität. Dazu sparen sie sich den Großteil des Services und prompt haben sie einen kaum aufholbaren Wettbewerbsvorteil. Dass die Konkurrenzprodukte bedeutend häufiger ausfallen, ist ein zusätzliches Problem. Der Kunde merkt sich so etwas und bezieht es dann auf die ganze Produktkategorie. Das Interesse geht allgemein zurück und nach wenigen Jahren ist der Markt verbrannt.
Unser Know-how trifft dabei auf das Wissen von ortsansässigen Elektroingenieuren.
Aber wir machen es jetzt anders – andere haben uns das vorgemacht: Wir entwickeln jetzt direkt vor Ort mit einem eigenen Team. Unser Know-how trifft dabei auf das Wissen von ortsansässigen Elektroingenieuren. Und die kennen die örtlichen Einschränkungen genau. Sie wissen, wie die Nutzerinnen und Nutzer das Produkt einsetzen und bedienen wollen.
Wir haben ziemlich schnell bemerkt, dass unsere zentrale Schwachstelle die multifunktionalen, aber dadurch sehr komplexen Netzteile waren. Die Lösung: frugale Innovation. Für mich auch ein neues Konzept, aber sofort einleuchtend: Wir reagieren kreativ auf die lokalen Beschränkungen bei der Ressourcenverfügbarkeit und kommen so zu technisch simplen, preiswerten und robusten Produkten. Unsere neuen Netzteile kommen jetzt mit einem Zehntel an Bauteilen aus und sind speziell auf die örtlichen Spannungsschwankungen, das subtropische Klima und die deutlich höhere Nutzungsintensität ausgelegt.
Unsere Kooperation wird dabei sogar von öffentlicher Seite in einer binationalen Initiative unterstützt. Natürlich auch mit dem Ziel, die hiesige Wortschöpfung zu erhöhen. Für mich ist das nicht immer einfach, ich muss die eingeschränkten Produktionsmöglichkeiten bei der Konstruktion berücksichtigen. Aber was ich dabei lernen und erleben kann, ist einfach unglaublich! Wir beschäftigen uns mit völlig neuen Konstruktionsformen, die ich so weder im Studium noch in meinem Unternehmen kennengelernt habe. Ganz wichtig sind dabei die praktischen Erfahrungen meiner asiatischen Teammitglieder. Im besten Fall können wir das neue Produkt dann auch in anderen Ländern mit einer fragilen Netzinfrastruktur vermarkten.
Mir gefällt diese Art der Projektarbeit in einem internationalen und interkulturellen Team.
Das klingt jetzt vielleicht sehr romantisch, aber so eine spannende Zeit wie hier habe ich noch nie erlebt. Mir gefällt diese Art der Projektarbeit in einem internationalen und interkulturellen Team. Im Geheimen könnte ich mir nach dem Projektende in Asien die Leitung eines vergleichbaren Projekts in einem afrikanischen Land gut vorstellen. Meine Erfahrungen könnten dort helfen, frugale Innovation zu implementieren. Aber da muss natürlich mein Unternehmen mitspielen. Außerdem habe ich hier einen Partner gefunden – aber der ist glücklicherweise genauso reisefreudig wie ich."