Forschungsperspektiven : , Thema: Forschung
Wir können unsere Zukunft selbst gestalten. Forschung und Innovation sollten daher nicht nur das Mach- und Denkbare, sondern auch das Wünschenswerte und das Potenzial der Menschen berücksichtigen. Dazu einige Stimmen von Expertinnen und Experten.
Der zweite Foresight-Zyklus wurde im Auftrag des BMBF von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des VDI Technologie-Zentrums (TZ) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) durchgeführt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Rahmen des damaligen Foresight-Prozesses einen Blick in die Labore geworfen und von der Gesundheitsforschung über die Photonik bis zur Dienstleistungsforschung durchdacht, welche gesellschaftlichen Veränderungen und Durchbrüche in einzelnen Disziplinen in den kommenden Jahren erwartet werden könnten.
Im Interview erläutert Dr. Simone Kimpeler, Leiterin des Foresight Competence Centers am Fraunhofer ISI, die Bedeutung von Foresight und die daraus abgeleiteten Impulse für neue Forschungsstrategien.
Foresight schafft Forschungsperspektiven
Warum ist der Foresight-Prozess so wichtig?
Der Foresight-Prozess ist für das BMBF ein entscheidendes Instrument, um frühzeitig gesellschaftliche und technologische Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die langfristigen Chancen und Risiken der Gesellschafts- und Technologietrends im Rahmen von Zukunftsdialogen mit der Öffentlichkeit abzuwägen und passende Forschungs- und Innovationsfördermaßnahmen auf den Weg zu bringen. Oder anders ausgedrückt: Der Foresight-Prozess kann wichtige Impulse für neue Forschungs- und Innovationsstrategien geben.
Inwieweit ist Foresight auch ein Frühwarnsystem?
Wir verstehen die Foresight-Aktivitäten als laufenden Prozess der breiten Suche nach zukünftigen Herausforderungen für Forschung und Innovation: Welche Signale für neue gesellschaftliche Bedarfe in den kommenden 15 Jahren können wir schon heute erkennen? Welche Szenarien werden durch die Verknüpfung mit technologischen Entwicklungen möglich? Indem wir sehr viele Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster gesellschaftlicher Bereiche in diesem Prozess mitnehmen und die Ergebnisse intensiv diskutieren, stellen wir sicher, dass wir möglichst viele Aspekte aufnehmen.
Und was passiert mit den Ergebnissen?
Das Ministerium selbst nutzt die identifizierten Zukunftsthemen für die Weiterentwicklung seiner Förderprogramme. Ausgewählte Themen werden außerdem in den ZukunftsForen und Zukunftskonferenzen mit Bürgerinnen und Bürgern oder im jährlichen Foresight-Filmfestival vertieft. Erkenntnisse zu Chancen und Herausforderungen spiegeln sich nicht zuletzt in der aktuellen Hightech-Strategie der Bundesregierung wider.
Privatheit in der Moderne
Die Balance zwischen Privatsphäre und Sicherheit, zwischen neuen, potenziell arbeitsplatzschaffenden Produkten und dem Datenschutz benötigt mit Blick in die Zukunft eine breite Diskussion in der Gesellschaft. Prof. Dr. Katharina Anna Zweig von der Technischen Universität Kaiserslautern spricht über die Digitalisierung als einem Gestaltungsprozess.
„Die digitale Gesellschaft gestalten“
Die Digitalisierung ist allgegenwärtig. Was passiert künftig mit unseren Daten?
Die Digitalisierung ermöglicht es, Datensätze miteinander zu verknüpfen. Dadurch lohnt es sich für Dritte, auch kleinste Informationsschnipsel zusammenzutragen und aufzubewahren. Auf der einen Seite werden die Informationen so derart individuell sein, dass wir jederzeit identifiziert werden können – auf der anderen Seite wird man neue Muster menschlichen Verhaltens entdecken, die zeigen, wie wenig individuell wir oft sind.
Können wir die digitale Welt überhaupt mit Gesetzen regulieren?
Ich denke, dass wir eine breite Diskussion darüber benötigen, was wir als Gesellschaft wollen. Wir müssen die gewünschte Balance zwischen Privatsphäre und Sicherheit, zwischen Erkenntniswunsch und Autonomie des Individuums, zwischen neuen, potenziell arbeitsplatzschaffenden Produkten und dem Datenschutz neu bestimmen. Die aus den Diskussionen entstehenden Normen müssen sorgfältig in Gesetze umgewandelt werden, ohne überzuregulieren und ohne wichtige Rechte aller Bürgerinnen und Bürger zu vernachlässigen.
Welche Impulse liefern dabei die Debatten im Rahmen des Foresight-Prozesses?
Der Foresight-Prozess hat viele der wichtigen Entwicklungen benannt und sorgt dafür, in Forschung und Gesellschaft die notwendigen Analysen und Diskussionen anzuregen. Denn es geht darum, die digitale Gesellschaft von morgen zu gestalten.
Neue Mitarbeiter, neue Arbeitsmodelle
Dass sich die digitale Entwicklung stark auf die Arbeitswelt auswirken wird, ist bereits heute abzusehen. Wissen wird viral und verändert auch hergebrachte Berufsbilder. Prof. Dr. Michael Decker vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ist überzeugt, dass die digitale Transformation neue, heute noch unbekannte Berufe entstehen lässt.
„Digitalisierung schafft auch neue Berufe“
Gilt das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung auch in der digitalen Gesellschaft?
Ja, das gilt noch. Bildungsinhalte werden sich verschieben entlang neu entstehender gesellschaftlicher Anforderungen. Und das war schon immer so, das ist längst „eingeübt“. Wenn man sich die Themen und Lehrmodule heutiger Studiengänge vor Augen führt, wird das offensichtlich. Und die Digitalisierung schafft wieder neue, bislang vielleicht noch unbekannte Berufe.
Welche Arbeiten werden auch künftig nur von uns Menschen erledigt?
Wenn wir sagen: Ohne jegliche Zuhilfenahme von Technik, dann stimmt das doch schon heute nicht mehr. Arbeiten enthält immer technisches Handeln. Auch in einem Kindergarten erleichtern technische Hilfsmittel wie Mobiltelefone oder E-Mail-Verteiler die Arbeit. Deshalb ist die Kooperation von Mensch und Technik das zurzeit verfolgte Paradigma, wobei graduell das gesamte Spektrum von geringer technischer Unterstützung bis hin zur Übernahme von kompletten Teilhandlungen durch Technik abgedeckt wird.
Inwieweit hilft der Foresight-Prozess, uns auf die Digitalisierung vorzubereiten?
Der Blick in die Zukunft ist eine zentrale Aufgabe moderner Gesellschaften. Nur wenn man sich konzeptionell fundierte Bilder über mögliche Entwicklungen macht, ist man in der Lage, gesellschaftlich wünschenswerte Entscheidungen zu treffen. Die Zukunftsbilder werden dann zu Alternativen, die man nach wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen oder ethischen Kriterien beurteilen kann. Die Entwicklung von Szenarien – sei es entlang technischer Entwicklungen oder gesellschaftlicher Bedarfe – ermöglicht es überhaupt erst, sich über Chancen und Risiken dieser Entwicklungen zu verständigen.
Bürger schaffen Wissen
Bis 2030 könnten Laien für die deutsche Forschungslandschaft immer wichtiger werden. Ihre Einbindung steigert die Akzeptanz von Wissenschaft, denn gemeinsam werden lebensnahe Lösungen für alltägliche Probleme entwickelt. Das Potenzial und die Bedeutung von „Citizen Science“ wird nach Ansicht des Generaldirektors des Museums für Naturkunde in Berlin, Prof. Dr. Johannes Vogel, stetig anwachsen.
"Bürgerfoschung bietet großes Potenzial"
Wo steht die Bürgerforschung im Jahr 2030?
Die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in den Forschungsprozess wird im Jahr 2030 Standard sein. Jedes deutsche Forschungsinstitut, jede Uni wird „Beauftragte für Bürgerwissenschaften“ beschäftigen. Die frühzeitige Einbindung der Bevölkerung in Forschungsprojekte wird noch stärker als heute zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen – und zur Realisierung von volkswirtschaftlich nutzbaren Innovationen.
Worin sehen Sie die Vorteile der Bürgerforschung?
Die Menschen nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Bürgerforscherinnen und Bürgerforscher setzen sich heute schon sehr intensiv mit der Entwicklung von Umweltsensoren auseinander, beispielsweise um Luftverschmutzung und Lärm zu erfassen. Damit erhöhen sie den Druck auf die Politik. Wenn ich an „Garagenbiologen“ denke, sehe ich aber auch Gefahren. So schreiten Technologien zur Veränderung des Erbguts schnell voran und werden immer billiger. Hier ist es wichtig, dass die Wissenschaft mit den Bürgerforscherinnen und Bürgerforschern und mit der Bevölkerung im Gespräch bleibt.
Wo sehen Sie Herausforderungen für das Wissenschaftssystem?
Wissenschaftliche Exzellenz ist eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Forschung. Deshalb muss das Wissenschaftssystem seine Evaluierungskriterien überdenken. Allerdings ist es genauso wichtig, dass die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft und Forschung besser dargestellt wird. Die Bürgerforschung bietet hier ein großes Potenzial. Im Bereich der Wissenschaftskommunikation sind die persönlichen Fähigkeiten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefragt. Diese Kompetenzentwicklung sollte daher stärker in die universitären Lehrpläne aufgenommen werden.
„Maker“ produzieren selbst
Eine neue Spezies der Macher könnte im Jahre 2030 die Wirtschaft mitbestimmen. Die sogenannte „Maker“-Bewegung teilt ihr Wissen, ihre Kreativität und ihr Können – auch dank technischer Neuerungen, die das Herstellen, Reparieren und Tauschen in neuen Dimensionen ermöglichen. Prof. Dr. Susanne Robra-Bissantz von der Technischen Universität Braunschweig weiß, was der gesellschaftliche Trend zum Reparieren, "Up-" und "Re-Cycling" bewirken kann.
"Potenziale jedes Einzelnen nutzen"
Welche Chancen eröffnet der Trend zum Selbermachen?
Im besten Fall können wir die Potenziale jedes Einzelnen nutzen, anregen und fördern. Wissen, Kreativität und Freude werden für die Gesellschaft nutzbar gemacht. Technische Geräte zu reparieren wird wieder üblich, ein Wiederverwertungskreislauf entsteht. Gerade junge Menschen lernen so Produkte neu kennen, von denen sie sich zunehmend entfremdet haben. Auf die Weise arbeiten wir gemeinsam an einer nachhaltigen Zukunft.
Welche Herausforderungen bringen kooperative Geschäftsmodelle?
In kooperativen, nicht kommerziellen Wirtschaftsstrukturen muss jeder in besonderer Weise Verantwortung übernehmen, gegenseitiges Vertrauen ist entscheidend. Aus gemeinsamen Visionen müssen gleichberechtigte Strukturen und neue Aushandlungsmechanismen entstehen. Das stellt herkömmliche Geschäftsmodelle und hierarchische Organisationen bisweilen infrage.
Wie lautet Ihre Prognose für 2030?
Wir werden immer mehr Informationstechnik zur Verfügung haben, um Dinge selber zu bauen. Gleichzeitig etablieren sich neue Internet-Plattformen, die eine dezentrale Produktion unterstützen. Die Frage ist jedoch, was die elektronische Vernetzung für das soziale Leben der Menschen bedeutet. Und wie sich die Erwerbs- und Arbeitsmodelle verändern müssen. Die Zeit wird zeigen, ob wir mit heutigen Technologien die Chancen für eine kooperative Gesellschaft nutzen können. Und ob die nachfolgenden Generationen das überhaupt wollen.
Werte, Wachstum, Wohlstand
In vielen Industriestaaten wird die Frage diskutiert, wie eine Entkoppelung von Wohlstand und Wachstum funktionieren kann. An die Stelle wirtschaftlicher Interessen treten verstärkt nachhaltige Werte. Der „ökologische Fußabdruck“ und soziale Kontakte gewinnen an Bedeutung, wenn es um die Messung unseres zukünftigen Wohlstands geht. Dr. Stefan Bergheim vom Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt e. V. in Frankfurt spricht über Alternativen zu klassischen Wachstumsindikatoren.
"Konsum mit Bedacht"
Welche Wohlstandsindikatoren gibt es neben dem Bruttosozialprodukt?
Schon heute gibt es eine Vielzahl an Wohlstandsindikatoren, die intensiv genutzt werden: Einzelindikatoren wie die Arbeitslosenquote, die Lebenserwartung, das Vertrauen in die Mitmenschen oder den ökologischen Fußabdruck. Und zusammengesetzte Indikatoren wie den Index menschlicher Entwicklung der Vereinten Nationen, den Index des besseren Lebens der OECD oder den Fortschrittsindex des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt.
Was können wir tun, um nicht weiter auf Kosten künftiger Generationen zu leben?
An vielen Stellen bauen wir seit Jahrzehnten Vermögen für künftige Generationen auf: Humanvermögen durch Bildung, Sozialvermögen durch unsere gesellschaftlichen Institutionen und natürlich Sachvermögen durch Investitionen. Dieser Reichtum sollte es uns ermöglichen, nun das Naturvermögen stärker zu berücksichtigen und weltweit weniger davon zu verbrauchen.
Welche Herausforderungen sind mit einer Lebensqualitätsgesellschaft verbunden?
Immer mehr Menschen besinnen sich auf das, was für sie und ihr Umfeld wirklich wichtig ist. Dazu gehören stabile soziale Kontakte, erfüllende Tätigkeiten und eine intakte Umwelt. Rein materielle Aspekte treten dadurch etwas in den Hintergrund – vor allem, wenn sie schlecht für die Umwelt und für andere Menschen sind. Viele Unternehmen stellen sich schon heute darauf ein und vetreiben nachhaltig produzierte Waren. Oder sie garantieren einen fairen Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Dienstleistungssektor.
Globale Ideenschmieden
Der internationale Wettbewerb um Ideen, Talente und Technologien beschleunigt sich. Bis zum Jahre 2030 könnten sich die Zentren der globalen Innovationslandschaft verschieben. Was lässt sich von den Wachstumsmärkten Asiens für die hiesige Innovationslandschaft lernen? Dr. Rajnish Tiwari von der Technischen Universität Hamburg analysiert die Chancen und Grenzen globaler Innovationspfade.
"Erschwingliche Spitzentechnologien"
Was können wir von den ehemaligen Schwellenländern Asiens lernen?
Die ehemaligen Schwellenländer Asiens, aktuell insbesondere China und Indien, legen in beeindruckender Weise dar, wie die Hoffnung junger Menschen auf ein besseres Leben Innovationskraft auslösen kann. Die Voraussetzungen hierfür wurden vor Ort etwa durch gezielte Investitionen in die Hochschulbildung, die Förderung des Unternehmertums und die aktive Unterstützung internationaler Kooperationen geschaffen.
Inwieweit profitieren wir von Innovationen aus ehemaligen Schwellenländern?
Dort entstehen zum Teil hochinnovative Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle – oft in Zusammenarbeit mit unseren Firmen. Einige Innovationen aus den neuen Leitmärkten finden ihren Weg zurück zu uns und dienen der Sicherung unserer Wettbewerbsfähigkeit. Denn sogenannte frugale Innovationen sprechen neue Kundensegmente an und senken den Kostendruck, beispielsweise im Gesundheitsbereich.
Wie können wir uns auf die Innovationslandschaft von morgen vorbereiten?
Die zunehmende Bedeutung ungesättigter Märkte auf der Südhalbkugel, aber auch die umweltpolitischen Gegebenheiten erfordern eine verantwortungsvolle Kombination von Spitzen-technologien und Erschwinglichkeit. Frugale Innovationen können am besten in globalen Innovationsnetzwerken realisiert werden. Die Industrienationen sollten daher viel offener sein für neue, manchmal auch ungewöhnliche Innovationspfade.