CHIBOW: Wie Kunst und Theater Konfliktforschung bekannter machen : , Thema: Preisträger 2021
Forschung auf Augenhöhe: Das ermöglicht das Netzwerk CHIBOW. Dort arbeiten „Kinder des Krieges“ an Fragebögen von Forschenden mit und sollen in Theaterworkshops mit Kunstschaffenden zusammenkommen. Das Ziel: Theateraufführungen mit ihren Geschichten.
Jede Lebensgeschichte ist einzigartig; gleichwohl haben die „Kinder des Krieges“ (engl. „Children Born of War“) auf allen Kontinenten ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie sind Diskriminierung ausgesetzt und haben häufig schwierige Entwicklungsbedingungen bis hin zu traumatisierenden Erfahrungen in ihrer Kindheit. Der abwesende Vater und die Scham der Mütter, die ihre Kinder ablehnen, weil sie nicht aus freiwilligen Beziehungen stammen, prägen ihr Aufwachsen. Oft sind sie durch ein doppeltes Stigma als „Kinder des Feindes“ und als uneheliche Kinder gezeichnet. Diskriminierung, Traumatisierung, Bruchstellen auf dem Weg der Identitätsbildung – damit beschäftigt sich das Netzwerk CHIBOW („Children Born of War – Past, Present, Future”).
Forschung zur Verbesserung der Integration
CHIBOW verschafft den Stimmen der Kinder, die in bewaffneten Konflikten oder Postkonfliktregionen durch fremde oder feindliche Soldaten mit einheimischen Frauen gezeugt wurden, ein besseres Gehör. Zu dieser Gruppe zählen sowohl Kinder, die aus Vergewaltigungen stammen als auch solche, die aus mehr oder weniger freiwilligen Beziehungen hervorgegangen sind. Die CHIBOW-Forschungsaktivitäten wurden von zwölf Partnerinstitutionen durchgeführt, die von der EU im Rahmen des Programms „Innovative Training Network“ (ITN) finanziell gefördert wurden. Koordiniert von Prof. Sabine Lee an der Universität Birmingham, wurden mit 24 akademischen und Drittsektorpartnern zusammengearbeitet, unter anderem in Rouen (Frankreich), Lira (Uganda), Tel Aviv (Israel) und Klaipeda (Litauen). Dieses Projekt ist ein Beispiel dafür, wie vielseitig Wissenschaft ist. Wissenschaft findet also nicht nur im Hörsaal, im Labor oder in Forschungsanlagen statt. Sondern Wissenschaft heißt auch, Archivbestände zu sichten und zu analysieren, persönliche Beziehungen aufzubauen und verantwortungsvoll und sensibel mit dem Forschungsmaterial umzugehen. Im CHIBOW-Netzwerk arbeiten interdisziplinäre Expertenteams – u.a. aus den Fachdisziplinen Psychologie, Rechtswissenschaften, Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften – über Kontinente hinweg zusammen und tragen mit ihrer Forschung dazu bei, die aktuellen gesellschaftlichen Integrationsbemühungen zu verbessern.
Partizipativer Forschungsansatz stärkt Betroffene
In Deutschland federführend beteiligt war Prof. Dr. Heide Glaesmer, Leiterin der Arbeitsgruppe „Psychotraumatologie und Migrationsforschung“ der Universität Leipzig. Sie beschreibt den zugrundeliegenden partizipativen Forschungsansatz (in Englisch „participatory research“): „Das ist ein Miteinander, ein Arbeiten auf Augenhöhe, kein Subjekt-Objekt Verhältnis. Ein Beispiel sind unsere Fragebögen. Die haben wir entwickelt, aber gleichzeitig die Betroffenen gebeten zu prüfen, ob wir alle Aspekte berücksichtigt haben oder, ob die Formulierungen sensibel genug sind. Was da an Rücklauf kommt, ist hilfreich für unsere Forschung, für die es noch nicht so viel Vorbefunde gab, auf die wir uns hätten stützen können.“ Auf diese Weise unterstützen die Betroffenen die Wissenschaft dabei, tieferen Zugang zum Thema zu finden. „Diese Forschung ist nah bei den Menschen. Diese sind Expertinnen und Experten in eigener Sache und werden damit in ihrer Eigenverantwortlichkeit gestärkt“, beschreibt Heide Glaesmer.
Nicht-akademische Partner involviert
Innerhalb dieses Forschungs- und Trainingsnetzwerks sind 15 Promotionsprojekte realisiert worden, die dazu beigetragen haben, den Forschungsschwerpunkt „Kinder des Krieges in Europa“ zu etablieren. Was auch ungewöhnlich bei dem europäischen Projekt war: Die Doktorandinnen und Doktoranden haben nicht nur im akademischen Umfeld gearbeitet, sondern gleich auch ein ,training on the job‘ erhalten. „Denn es waren Partner wie Nichtregierungsorganisationen (NGO), Medienunternehmen oder Museen involviert. So konnten die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Erfahrungen außerhalb des akademischen Umfelds machen“, schildert Heide Glaesmer. Alle Nachwuchsforschenden sind ihrem Thema treu geblieben: Sie arbeiten in bildungs- und forschungsrelevanten NGO-Bereichen und wollen auch weiterhin zur Verbesserung der Situation von Kindern des Krieges und anderen kriegsbetroffenen Gruppen in Deutschland und Europa beitragen.
Forschung der Allgemeinheit zugänglich machen
Dem CHIBOW-Netzwerk war es von Anfang an wichtig, seine Forschung einer breiten Öffentlichkeit auch mit künstlerischen und journalistischen Mitteln zugänglich zu machen. Es gibt Wanderausstellungen, Filme und Reportagen. Inzwischen hat die Sichtbarkeit der Kinder des Krieges innerhalb Europas, aber auch in Asien, Afrika und Südamerika zugenommen. „Wir haben die empirischen Grundlagen verbessert und konnten darauf aufbauend in interdisziplinären Forschungsteams wichtige neue Einblicke, nicht nur in die Kindheitserfahrungen gewinnen. Wir haben auch Material zu den wirtschaftlichen, sozialen und bildungs-relevanten Schwierigkeiten im Leben der Kinder des Krieges erarbeitet“, sagt Heide Glaesmer.
Nun wird das Potenzial des Theaters aktiviert, um die Forschung und die Thematik der Kinder des Krieges“ der Allgemeinheit bekannter zu machen. Mit den 50.000 Euro aus dem Ralf-Dahrendorf-Preis für den Europäischen Forschungsraum (EFR) sollen kreativ und sensibel neue Zugänge zu diesem mit Stigmata behafteten Thema ermöglicht werden. Über private Kontakte kam die Zusammenarbeit mit dem Landesverband der freien Theater in Sachsen zustande. Geplant ist eine europaweite Ausschreibung für theatrale Auseinandersetzungen mit dem Thema. Sie lädt europäische Künstler und Künstlerinnen der freien darstellenden Künste dazu ein, sich mit der Thematik der Kinder des Krieges, auseinanderzusetzen und daraus Aufführungen zu entwickeln. Es besteht die Möglichkeit für die Theaterschaffenden, in Workshops mit Betroffenen einen unmittelbaren Zugang zum Thema zu gewinnen. „Wir sind natürlich gespannt, wie eine künstlerische Auseinandersetzung im Theater historische Ereignisse aufgreifen kann“, so Heide Glaesmer. Sie und ihr Team wünschen sich zudem einen offenen Austauschprozess mit dem Publikum. „Es soll aus der passiven Rolle herausgelockt werden und im besten Fall das Gesehene in Relation zum eigenen Leben und zu gesellschaftlichen Diskursen setzen.“