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„Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ : Datum: , Thema: Forschung

Bundesforschungsministerin Karliczek ruft bei der Konferenz zum Europäischen Forschungsraum zu mehr europäischer Integration auf. „Der Europäische Forschungsraum muss zu einem echten Binnenraum für Forschung und Innovation werden“, sagte sie.

EFR-Konferenz
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek eröffnet die EFR-Konferenz. © BMBF/Hans-Joachim Rickel

Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek (MdB) anlässlich der nationalen Konferenz zum Europäischen Forschungsraum am 14. Mai 2019 in Berlin.

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Frau Ministerin Divjak,

sehr geehrter Herr Staatssekretär Antičić,

sehr geehrte Frau Ministerin Münch,

sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten und Vorsitzende der Wissenschaftsallianz,

sehr geehrter Präsident des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft Barner,

sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaftsorganisationen,

sehr geehrte Lady Dahrendorf,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

in diesem Jahr jährt sich der Fall der Mauer zum 30sten Mal. Ich stand damals kurz vor dem Abitur. Es herrschte Aufbruchstimmung – im ganzen Land, nicht nur bei mir. Menschen feierten. Sie hatten es geschafft. Sie hatten in friedlichen Demonstrationen die Wiedervereinigung Deutschlands erreicht. Der kalte Krieg sollte mit der Wiedervereinigung Deutschlands sein Ende finden und mit der Erweiterung der EU nach Osten auch für ganz Europa beendet sein. Es ging die Kunde vom „Ende der Geschichte“ um. Die Menschen waren überzeugt: Frieden und Freiheit haben sich durchgesetzt. Die wirtschaftlichen Herausforderungen werden wir bewältigen. Wir halten zusammen. Wir schaffen das.

Und wo stehen wir heute? 30 Jahre später ist die Euphorie verflogen. Die Mühen des Alltags haben Einzug gehalten. Weitere Veränderungen wie die zunehmende Globalisierung unserer Wirtschaft und die Digitalisierung unserer Gesellschaft fordern jeden Einzelnen von uns. Der Wandel, der uns im Griff hat, scheint mehr Last als Lust. Und dann kommt noch eins dazu: Der Glaube daran, dass unser Leben noch besser und schöner werden kann, ist merklich zurückgegangen.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieser Gesellschaft wieder eine erstrebenswerte Perspektive zu geben. Und deshalb freue ich mich, heute hier bei Ihnen zu sein. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, dass neue Technologien und neue Formen des Zusammenlebens neue Anforderungen an unser Miteinander stellen. Ich möchte mit Ihnen erörtern, wie wir am besten die Zukunft gestalten.

Der vorletzte Freitag war für die Wissenschaft in Deutschland ein richtig, richtig guter Tag. Bund und Länder haben Pakte geschnürt, die für die Hochschulen und die Forschungseinrichtungen in Deutschland eine Dimension darstellen, die es nie zuvor gegeben hat. Nie zuvor haben Bund und Länder der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in Deutschland eine so langfristige und finanziell so verlässliche Perspektive geboten. Wir stecken in den nächsten zehn Jahren
160 Milliarden Euro in die Innovationskraft unseres Landes.

Diese Pakte sind auch wichtig für Europa. Damit können deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch besser und intensiver in Europa kooperieren – zum Wohle Europas und Deutschlands. Diese Bundesregierung steht für Innovation und Erneuerung. Das ist seit Freitag dokumentiert. Und diesen Weg werden wir weitergehen.

Am 26. Mai ist Europawahl. Seit über 70 Jahren ist Europa der Garant für Frieden und Freiheit auf dem Kontinent. Seit meinen Kindertagen war das für mich selbstverständlich. Doch ist das wirklich selbstverständlich? Müssen wir uns und unseren Kindern nicht immer wieder klar machen, dass Frieden und Freiheit täglich neu erarbeitet werden müssen? Frieden und Freiheit sind das Ergebnis von Kompromissen, von Toleranz den anderen gegenüber, von gemeinsamen Regeln, an die sich alle halten. Meine Freiheit endet dort, wo ich die Freiheit des anderen beschneide. Wir müssen uns das immer wieder vor Augen halten.

Dieser Kontinent hat gemeinsame Werte. Die Achtung der Würde jedes Menschen, die individuelle Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit zu glauben – oder auch nicht, aber auch die Meinungsfreiheit und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. All das hat diesen Kontinent stark gemacht. All das hat uns bis heute geleitet. All das schien über Jahrzehnte selbstverständlich. All das unterscheidet uns von vielen Regionen der Welt.

Eine Welt, die uns gerade vielfältig vor neue Aufgaben stellt. Wir erleben gerade, wie China aber auch unsere wichtigsten Partner, die USA, ihre nationalen Interessen immer stärker in den Vordergrund stellen. Das stellt uns vor neue Herausforderungen, gerade in Forschung und Innovation, wo Kooperation, Interessensausgleich und gemeinsame Werte eine Voraussetzung für Fortschritt sind. Mit meiner französischen Kollegin Vidal habe ich vor einigen Tagen einen gemeinsamen Aufruf für ein offenes und wertebasiertes Europa der Bildung, Forschung und Innovation veröffentlicht. Wir sind überzeugt, dass Bildung, Forschung und Innovation der zentrale ‚Kit‘ sind, der Europa zusammenhält. Es geht heute nicht ‚nur‘ um Technologie und Wettbewerbsfähigkeit, sondern um den Zusammenhalt in Europa.

Die Staats- und Regierungschefs haben gerade am letzten Donnerstag in Sibiu ein starkes Bekenntnis für ein wertebasiertes und nachhaltiges Europa abgegeben. Darauf müssen wir jetzt aufbauen und handeln. Ich habe mir dazu für unsere Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr viel vorgenommen. Ich will mit meinen Kollegen und Partnern in Europa ein starkes Fundament in Bildung, Forschung und Innovation für die kommende Dekade entwickeln. Unsere heutige Konferenz ist dafür der Startschuss.

Lassen Sie mich konkret werden: Künstliche Intelligenz ist der momentane Treiber der Innovation. Quantentechnologien sind die nächste Generation. Wenn wir wirtschaftlich stark bleiben wollen, müssen wir uns diesem Wettbewerb stellen. Deshalb haben wir in der Bundesregierung die KI-Strategie auf den Weg gebracht. Sie beinhaltet die weitere Förderung der Forschung, den schnelleren Transfer von Know-how in die Wirtschaft und eine engere Zusammenarbeit in Europa. Insbesondere mit Frankreich.

Eine engere Vernetzung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ist dabei essentiell. Denn es geht einerseits um mehr Professuren, mehr Lehre, mehr Transfer. Ein genauso wesentlicher Punkt ist aber die Regelsetzung. Die neuen Technologien sind in der Lage, den Menschen zu dominieren. Wir setzen weiterhin auf die freiheitliche Entscheidung des Menschen.

Der Mensch steht im Mittelpunkt. Jegliche Technologien sollen zum Wohl des Menschen wirken. Deshalb hat die EU-Kommission eine Expertengruppe eingesetzt. Sie hat ethische Richtlinien für eine vertrauenswürdige KI entwickelt. Denn hier ist die Politik gefragt. Gemeinsame Regeln in Europa können uns im internationalen Wettbewerb einen entscheidenden Vorteil bringen.

Schon heute hat sich ein amerikanischer Softwarekonzern freiwillig verpflichtet, weltweit die Standards unserer Datenschutzgrundverordnung anzuwenden. Warum? Weil die Führungsspitze natürlich erkannt hat,

  • dass maßvoller Datenschutz ein Wettbewerbsvorteil ist,
  • dass der europäische Binnenmarkt ein attraktiver Markt ist,
  • dass auch Unternehmen ein verlässliches und faires Regelwerk schätzen.

Und deshalb ist Europa nicht das Problem. Europa ist für viele Fragen die Lösung. Europa kann und wird – gut gemacht – viele Aufgaben besser lösen, als es die Nationalstaaten alleine könnten. Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel – gemeinsame Probleme verlangen gemeinsame Antworten. Wir wollen ein lebendiges und dynamisches Innovationsökosystem schaffen, in dem Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft eng miteinander verzahnt sind. Der Europäische Forschungsraum muss zu einem echten Binnenraum für Forschung und Innovation werden. Wir brauchen Forschung für Europa!

Lassen Sie mich auf ein Forschungsgebiet eingehen, das wir schon zu Beginn des Jahres auf die nationale Agenda gehoben haben: der Kampf gegen den Krebs. Jeder zweite Mensch wird im Laufe seines Lebens mit der Diagnose Krebs konfrontiert. Für jeden Fünften ist sie tödlich. In jedem Fall ist sie eine unendliche Belastung für den Betroffenen, aber auch für das familiäre und persönliche Umfeld. Deshalb haben wir im Januar die Nationale Dekade gegen Krebs ausgerufen. Wir werden in Deutschland zehn Jahre lang, die weitere Forschung und Entwicklung bei Diagnose, Prävention und Behandlung vorantreiben. Die Künstliche Intelligenz bietet da viele bisher nicht gekannte Möglichkeiten. Wenn der Kampf gegen den Krebs nun ein europäischer Schwerpunkt wird, ist das natürlich eine andere Dimension: mehr Daten, mehr Forschung, mehr Erkenntnisse.

Ein weiterer Schwerpunkt wird der Klimaschutz sein. Schöpfung bewahren, Lebensgrundlagen bewahren – ein Thema, dass wir nur im weltweiten Miteinander zusammen lösen können. Ich bin sehr froh, dass viele junge Menschen in unserem Land erkannt haben, dass wir beim Klimaschutz vor großen Aufgaben stehen – auch wenn ich Ihr freitägliches Engagement während der Schulzeit kritisch sehe. Seit Jahren ist die Klimaforschung ein Kernthema in meinem Haus.

Seit dem vergangenen Mai arbeiten wir intensiv mit Frankreich zusammen. „Make our planet great again“ heißt unsere gemeinsame Forschungsinitiative, mit der wir internationale Spitzenforscher auf uns aufmerksam machen. Der europäische Kontinent muss alles dafür tun, dass internationale Spitzenwissenschaftler ein attraktives Umfeld finden. Sie sollen bei uns forschen und entwickeln. So können wir im Wettbewerb die Nase vorn halten und die nächste Generation Fortschritt einläuten.

Denn natürlich haben wir die Ziele des Pariser Klimaabkommens mitgezeichnet, weil wir es ernst meinen. Und weil wir es ernst meinen, können wir damit nicht nur ein Beispiel setzen, sondern auch neue Märkte erschließen. Bioökonomie, Kreislaufwirtschaft – Stichworte für die Zukunft unseres Wirtschaftens und die Zukunft unseres Wohlstandes. Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um ein großes Ziel: Ein gutes Leben in Europa zu ermöglichen und unseren Wohlstand zu wahren. Dafür brauchen wir eine Kultur der Neugierde, eine Kultur der Offenheit für Veränderungen. Wir brauchen Lust auf Zukunft.

Engere Zusammenarbeit über Grenzen hinweg – europäische Hochschulnetze oder auch internationaler Austausch in der Ausbildung – wir brauchen mehr davon. Wovon wird der Erfolg besonders abhängen? Der europäische Forschungsraum muss über das Wissenschaftssystem hinaus wirken, weit hinein in die europäische Gesellschaft. Auf keinem Gebiet leuchtet das so sehr ein wie bei Forschung und Innovation. Schon immer waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die ersten, die Barrieren überwunden haben. Forschung und Wissenschaft sind per se transnational und integrativ. Sie schaffen ein Klima der geistigen Offenheit. Damit prägen sie seit Jahrhunderten unsere europäische Identität und das europäische Wohlstandsmodell. Diese Rolle kann der europäische Forschungsraum künftig noch stärker ausfüllen.

Dazu gehört gute Wissenschaftskommunikation. Dafür haben wir einen Preis ausgelobt: Den Ralf-Dahrendorf-Preis. Gleich zeichne ich die ersten sechs Preisträger aus. Ralf Dahrendorf war einer derjenigen großen europäischen Männer und Frauen, die die Idee zum Europäischen Forschungsraum entwickelten. Er hat sich wie nur wenige um unseren Kontinent verdient gemacht. Lady Dahrendorf – ich darf Sie noch einmal herzlich begrüßen.

Allerdings: In den Regionen Europas und auch in den Mitgliedstaaten gibt es große Unterschiede. Nicht überall ist Forschung und Innovation gleich stark. Wir müssen daran arbeiten, diese Unterschiede zu verringern. Wir brauchen einen Strukturwandel. Ich bin sicher, dass ich hier auch ein Anliegen meiner Kollegin aus Kroatien anspreche, Frau Ministerin Divjak. Wir brauchen jetzt ein starkes und einiges Europa. Wir brauchen eine Europäische Union als Garant für freien Handel und offene Märkte. Immer wenn die Aufgabe richtig groß wird, wenn Gefahr droht, hat sich die Kraft des demokratischen Systems gezeigt. Lassen Sie uns auch jetzt das Bewusstsein dafür wecken, dass wir an einem Scheidepunkt stehen. Der gemeinsame europäische Weg ist unsere Zukunft.

Die Vorteile einer engen Kooperation sind doch unübersehbar: Bei der Sicherheit, bei der Migration, bei der Terrorbekämpfung, in der Außen- und Energiepolitik und natürlich bei Bildung und Forschung. Lassen Sie uns die großen Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam angehen. Wir werden Europa nicht den anderen überlassen – nicht den Populisten, nicht den Nationalisten und auch nicht den Extremisten.

Es ist gut und richtig, wenn Menschen eine Nation als ihre Heimat betrachten. Heimat ist kulturelle Identität, Heimat ist Verwurzelung, Heimat ist dort, wo ich Verankerung empfinde. Aber wir können beides sein: Deutsche und Europäer. Europa muss unser Zuhause sein. Europa ist unsere gemeinsame Wertebasis. Europa war ein Versprechen und muss wieder ein Versprechen werden.

Denn ein friedliches und freiheitliches Europa ist kein Zufall und keine Selbstverständlichkeit. Die europäische Union ist die beste Idee, die unsere Vorfahren hatten. Und es ist die beste Idee, die wir unseren Nachfahren hinterlassen möchten. In diesem Sinne kann diese Konferenz Zeichen setzen.