Revolution in der Schule : Datum: , Thema: Bildung
Intelligente Bücher können bald in Echtzeit erkennen, ob Lernende ein Thema verstehen oder noch Hilfe brauchen. Wie das funktioniert und warum Lehrende nicht um ihren Job bangen müssen, verrät Didaktik-Forscher Jochen Kuhn.
Bmbf.de: Herr Kuhn, Sie arbeiten zusammen mit dem DFKI an einem digitalen Schulbuch, das mitdenkt und eigene Entscheidungen über Inhalte trifft. Brauchen wir also bald schon keine Lehrerinnen und Lehrer mehr?
Doch, im Gegenteil. Um intelligente Schulbücher zu verwenden, braucht man mehr denn je gut ausgebildete Lehrkräfte. Das hat sich über hunderte von Jahren bewährt und wird auch so bleiben.
„Hypermind“ heißt das Programm, das Sie auf Tablets anbieten wollen. Welchen Mehrwert bietet es gegenüber normalen Büchern?
Es ist dynamisch adaptiv, das heißt: Es kann den Wissensstand der Schülerinnen und Schüler erkennen, also ob bei einem Thema Unterstützung gebraucht wird, weil es noch nicht richtig verstanden wurde, aber auch ob besondere Interessen vorliegen, die dann weiter gefördert werden. Es passt die Schulbuchinhalte individualisiert an und es entsteht ein persönliches Schulbuch. Wir setzen dabei auf verschiedene, typische Bausteine eines Schulbuchs: Texte, Bilder, Diagramme und so weiter. Alle diese Bausteine vermitteln auf unterschiedliche Weise Wissen. Hypermind löst die statische Form konventioneller Schulbücher auf und verknüpft diese Bausteine vollkommen neu miteinander.
Wie kann ein Buch erkennen, ob jemand einen Text versteht oder nicht?
Wir verwenden dafür unter anderem Eyetracker, also die Erkennung von Blickbewegungen. Daran lässt sich erkennen, wie die Lernenden lesen, in welcher Reihenfolge, wie lange in welchem Bereich, und ob sie über- oder unterfordert sind. Wenn der Blick zum Beispiel länger auf einem Wort verweilt, könnte es sein, dass etwas nicht verstanden wurde. Gleiches gilt für rückwärtige Sprünge im Verlauf. In dem Fall würde das System von sich aus weitere Informationen anbieten – zum Beispiel in Form eines Videos, wenn dies dem Lernertyp und Kenntnisstand entspricht.
Das ist alles?
Nicht ganz. Wir kombinieren die Blickerkennung mit einer Temperaturmessung im Gesicht. Die nehmen wir per Infrarotkamera vor. Entscheidend ist dabei das Temperaturverhältnis zwischen Nasenspitze und Stirn. Auch hieran lässt sich erkennen, wie stark die Lernenden kognitiv gefordert sind. Die Kombination von Blickbewegung und Temperaturverlauf erlaubt zu entscheiden, ob die Schülerin oder der Schüler vielleicht überfordert ist, wenn länger auf einen bestimmten Bereich einer Buchseite geschaut oder dieser wiederholt gelesen wird, oder ob sie und er sich dafür stärker interessiert. Hypermind kann dann über die nächsten Schritte entscheiden, ob beispielsweise Materialien zum Fördern oder Materialien zum Fordern bereitgestellt werden und wie diese aussehen müssen.
Das Buch lernt also mit? Oder muss es noch per Hand angepasst werden?
Das Ziel ist, dass sich entweder das Buch eigenständig auf die Lernenden anpasst und eigenständige Entscheidungen trifft oder aber der Lehrkraft die Analysedaten bereitstellt, um darauf basierend pädagogische Entscheidungen zu treffen. Momentan greifen wir noch ein, noch arbeiten wir ja auch mit Testpersonen. Wir analysieren derzeit, welche Rückschlüsse das System aus dem Lernverhalten der Probanden zieht. Da fallen gerade Unmengen an Daten an.
Wenn bei Verständnisproblemen immer direkt ein Erklärvideo eingeblendet wird: Senkt nicht genau das wiederum die Fähigkeit, Texte zu verstehen?
Wenn man es so machen würde, ja. Aber der Plan ist ein anderer: Wie in jedem Schulbuch auch müssen am Ende des Tages Aufgaben bearbeitet werden. Wir erheben immer, auf welche Weise Informationen vorher aufgenommen wurden, und welche davon am Ende in die Lösung eingeflossen sind. Vereinfacht: Wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler komplizierte Diagramme gar nicht mehr ansieht und immer nur Videos anschaut, wird das System eingreifen und gezielt Diagramme präsentieren, wenn sie oder er Diagramme nicht erstellen oder nicht kompetent mit ihnen umgehen kann. Es könnte nochmals ein Video eingeblendet werden, das erklärt, wie man mit Diagrammen arbeitet, sofern dies vom Lernertyp und Vorwissen her passt. Es geht nicht darum, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Es geht um zusätzliche Hilfestellung oder weiterführende Informationen.
Ehrlich gesagt klingt das alles aber auch extrem gefährlich. Sie erschaffen den gläsernen Schüler. Wie wollen Sie den Schutz der Daten garantieren?
Wir nehmen das Thema Datenschutz sehr ernst. Momentan arbeiten wir komplett mit anonymisierten Daten und können keine Rückschlüsse auf einzelne Personen ziehen. Damit das System auch für den Bildungsalltag tauglich ist, erstellen wir basierend auf der Datenschutz-Grundverordnung ein Datenschutzkonzept gesondert von der Entwicklung des Prototypen. Noch aber erheben wir Daten zu Forschungszwecken komplett anonymisiert und sind einfach noch nicht soweit zur breiten Implementierung. Sobald unsere Studien abgeschlossen sind und generalisierbare Ergebnisse vorliegen, gehen wir in einen intensiven Kommunikationsprozess: Mit Vertretern aus Schüler- und Lehrerschaft, Datenschützerinnen und Datenschützern, aber auch der Politik.