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„Antisemitismus wird wieder sichtbarer“ : Datum: , Thema: Forschung

Hass auf Juden wird wieder öffentlicher ausgelebt. Antisemitismus-Forscherin Stefanie Schüler-Springorum erklärt im Interview, warum das so ist, und warum sie sich in einem neuen Projekt des BMBF zum gesellschaftlichen Zusammenhalt engagiert.

75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - BMBF

Ministerin Karliczek erklärt anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz, wie wichtig es ist, an Schulen konsequent gegen Antisemitismus vorzugehen. Jüdische Kinder dürfen an den Schulen keine Angst haben.

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Bmbf.de: Frau Schüler-Springorum, im vergangenen Jahr gab es den Anschlag auf eine Synagoge in Halle, dazu verschiedene Übergriffen auf Juden auf offener Straße. Ist der Antisemitismus wieder auf dem Vormarsch?

Stefanie Schüler-Springorum: Auf dem Vormarsch würde ich es nicht nennen, denn das würde ihm gestaltende Kraft zuschreiben. Aber der Antisemitismus wird wieder sichtbarer, man kommt aus der Deckung. Menschen mit Ressentiments leben diese jetzt ungehemmter aus als früher. Auf der Straße, im Gespräch, aber vor allen Dingen im Internet. So eine Häufung hatten wir vor etwa 15 Jahren schon einmal. Damals konnte man das an den Zuschriften, zum Beispiel an den Zentralrat der Juden, gut erkennen. Die kamen schon damals nicht mehr anonym, sondern mit vollem Absender. Jetzt ist der Antisemitismus wieder ein Stück salonfähiger geworden. Und mit dem Anschlag in Halle wurde auch wieder dessen Gewaltpotenzial sichtbar, das ja durchaus bekannt war – man denke etwa an den Mord an Shlomo Levin und seiner Partnerin 1980, den Anschlag in Düsseldorf-Werhahn 2000 oder die Pläne des NSU, der auch jüdische Prominente im Visier hatte – aber eben in Deutschland bislang in dieser Form dann doch nicht vorstellbar.

Woran liegt das?

Zum einen sicher daran, dass wir dieses Gewaltpotenzial von rechts in Bezug auf den Antisemitismus in den letzten Jahren unterschätzt haben – und ja nicht nur in Bezug darauf, sondern ganz allgemein, man denke etwa an den Mord an Walter Lübcke. Und zum anderen lässt sich, das wissen wir alle und das wird ja auch eifrig diskutiert, eine allgemeine Verrohung der Kommunikation durch das Internet und in den sozialen Medien konstatieren. Inwieweit dies auch zu einer größeren Aggressivität auf der Straße führt, darüber wäre zu diskutieren. Das betrifft aber nicht nur den Antisemitismus, sondern den Rassismus ganz allgemein, Chemnitz war ein trauriges Beispiel dafür, wie beides zusammengeht, und Halle in letzter Konsequenz ja ebenfalls.

Hat sich auch die Einstellung gegenüber eigentlich unstrittigen Themen wie dem Holocaust geändert?

Auch hier denke ich, dass eher schon lange vorhandene Ressentiments nun öffentlich geäußert werden. Forderungen danach, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen, werden immer lauter – allerdings gibt es sie seit 1945. Dennoch: Diese Schlussstrich-Mentalität halte ich für gefährlich, weil sie zum einen Empathie verweigert, zum anderen historisch-politische Verantwortung negiert.

Welche Schwerpunkte setzen Sie in ihrer Forschung derzeit?

Wir haben am ZfA mehr als 25 Projekte, aber besonders wichtig ist uns im Moment zum einen die Untersuchung der Visualisierung von Antisemitismus. Wir untersuchen nicht mehr nur, wie er sich durch Texte ausdrückt, sondern zum Beispiel durch Karikaturen oder Plakate, Fotografien und Filme. Die Frage ist: Wieso stößt dies auf Resonanz? Warum sind Menschen gewillt, dem zu folgen? Welche Denkstrukturen liegen dem zu Grunde? Das hat viel mit Emotionen, mit Ressentiments zu tun, die eben visuell stärker angesprochen werden. Zum anderen beschäftigen wir uns mit dem eben erwähnten terroristischen Gewaltpotenzial antisemitischer Täter in Deutschland seit 1945, das allerdings, wie beim NSU, in Chemnitz und am Ende auch in Halle nicht zu trennen ist von einer immer auch rassistischen Stoßrichtung. Und ich persönlich arbeite zur longue durée der Judenfeindschaft in ihrer Verknüpfung von religiösen und rassistischen Komponenten.

Sie arbeiten künftig als eine von elf Einrichtungen am neuen Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt mit. Worum geht es da genau? Kann man Zusammenhalt messen?

Aus meiner Sicht als Historikerin ist quasi objektives „messen“ nicht möglich, die Kollegen aus den Sozialwissenschaften sehen dies jedoch anders. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein Wunschbild, eine Vision, die in Deutschland historisch jedoch teilweise negativ gewendet wurde, was zu Ausgrenzung führte, nicht zuletzt in Form von Antisemitismus. Eine demokratische Gesellschaft lebt jedoch gerade vom Dissens, von der friedlichen Regulierung von Konflikten. Das neue Institut muss sich dieser Ambivalenz stellen und auf ein offenes, diskursives Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenhalt hinwirken.

Was versprechen Sie sich von der Kooperation?

Es ist eine große Chance für uns, auch mit Forschenden aus anderen Bereichen zu arbeiten. Die Antisemitismus-Forschung hat die Tendenz, sich in ihrer eigenen Blase zu bewegen. Das ist ein sehr geschlossener Diskurs. Jetzt haben wir die Möglichkeit, auch einmal „frische Luft“ zu atmen.

Welche Schwerpunkte werden Sie konkret setzen?

Wir werden drei wesentliche Bereiche abdecken. Zunächst geht es um die Frage, wie Ressentiments entstehen. Dann geht es um die Rolle der Erinnerungspolitik bei der Aushandlung der Frage, wer „dazu“ gehört und wer nicht, und schließlich, in einem weiteren Schritt, untersuchen wie Rolle von Religionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Derzeit betrachten wir Religion so, als führe sie per se zur Ausgrenzung von Andersgläubigen. Dabei kann sie auch einen verbindenden Charakter haben, positive Ressourcen verstärken.

Hat sich der Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht wirklich zuletzt verschlechtert? Viele sprechen schon von einem Riss…

…ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt. Ich halte das zum Teil auch für herbeigeredet, für ein mediales Konstrukt, einen von Ressentiments gesteuerten Krisendiskurs. Es gibt auch als positiv wahrgenommene Vielfalt, und auch viele gute Formen des Zusammenlebens. Wenn wir immer nur auf den vermeintlichen Riss schauen, gehen wir diesem Konstrukt auf den Leim.

Welchen Nutzen bringt das neue Institut den Menschen auf der Straße?

Auch das lässt sich nicht messen wie in anderen Forschungsbereichen. Es gibt nicht das eine Endergebnis, das dann allen etwas bringt. Aber wir wollen mit unseren Themen in die Gesellschaft hineinwirken. Aber nicht einseitig, sondern im Dialog. Wir werden nicht einfach sagen, wo es langgeht, sondern umgekehrt. Wir möchten Formate entwickeln, in denen wir den Sorgen aller Menschen, die in diesem Land leben, Raum geben und sie miteinander ins Gespräch bringen, also nicht nur die der viel beschworenen „deutschen Durchschnittsbürger“, sondern auch der von Rassismus und Antisemitismus Betroffenen.

Zur Person

Stefanie Schüler-Springorum leitet seit 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung, das Teil des neuen Instituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Zuvor war sie Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Sie ist außerdem Mitherausgeberin der Zeitschrift Werkstatt Geschichte.