Nach Lähmung wieder gehen können

Meldung , 01.03.2023

Im Interview spricht der Medizintechniker Thilo Krüger über die Rückenmarkstimulation, mit deren Hilfe Menschen mit Querschnittlähmung wieder auf die Beine kommen können. Im Eurostars-Projekt CONFIRM! wurden dafür wesentliche Elemente entwickelt.

Was war das Ziel des Eurostars-Projektes „CONFIRM!“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde?

Krüger: Wir wollen, dass Querschnittsgelähmte wieder stehen und Schritte ausführen können. Bei diesen Menschen wurden aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls die Nervenbahnen im Rückenmark geschädigt. Die Folge sind Lähmungen der Beine. In neuesten Studien aus der Schweiz konnte gezeigt wer-den, dass Betroffene willentlich wieder Beinbewegungen auslösen können, wenn ihr Rückenmark elektrisch stimuliert wird. Das funktioniert aber nur, wenn das an der richtigen Stelle und zum richtigen Zeitpunkt geschieht. Im CONFIRM!-Projekt haben wir dafür gemeinsam mit unseren Projektpartnerinnen (siehe Kasten) eine Lösung entwickelt.

Was ist das für eine Lösung?

Krüger: Ein automatisiertes elektrophysiologisches Überwachungssystem, das wir CONFIRM!-System nennen. Es unterstützt Chirurginnen und Chirurgen dabei, ein Rückenmarkimplantat an der richtigen Stelle einzusetzen. Dieses aktiviert mit seinen integrierten Elektroden nach der Operation die Nerven und Muskeln im Körper, die für das Stehen und Gehen gebraucht werden. Das Implantat selbst wurde nicht im CONFIRM!-Projekt entwickelt.

Wie unterstützt das CONFIRM!-System während der Operation?

Krüger: Während der Operation wird eine Elektrode auf das Rückenmark aufgelegt. Sie beinhaltet 16 Einzelkontakte und stimuliert damit die Nerven. Dabei steuert das CONFIRM!-System die Stärke und registriert den Ort der Stimulation. Gleichzeitig misst es die Reaktion ausgewählter Beinmuskeln präzise und wertet sie in Echtzeit aus. So kann es den Operierenden sofort einen Hinweis geben, wenn die Elektrode in eine bestimmte Richtung verschoben werden sollte. Im Anschluss wird die Elektrode mit dem Implantat verbunden. Die Operation ist sehr komplex, Fachleute aus Chirurgie und Neurophysiologie müssen dafür Hand in Hand arbeiten.

Und wie löst die Rückenmarkstimulation das Gehen aus?

Krüger: Ganz ähnlich wie bei einem Kniereflex, bei dem Ihr Schienbein nach vorne schnellt, wenn jemand auf Ihre Patellasehne am Knie klopft. Bei der Rückenmarkstimulation werden vor allem solche Nerven angeregt, die dem Rückenmark sensible Reize übermitteln. Aus aktuellen Forschungen wissen wir, dass es im lumbalen Rückenmark ein Nervenzellennetzwerk gibt, das ein angeborenes „Gangprogramm“ enthält, welches Beinbewegungen für Stehen und Gehen auslöst und vom Gehirn nur mit minimaler Signal-stärke angesteuert werden muss, um zu funktionieren. Über kleine Elektroden werden dann die nötigen Signale auf ganz bestimmte Rückenmarksnerven gegeben, damit dieses Nervenzellennetzwerk angeregt wird und zum richtigen Zeitpunkt Impulse an diejenigen Muskeln sendet, die für das Gehen notwendig sind.

Welche Prozesse laufen während der Operation automatisiert ab?

Krüger: Klinikfachleute aus Heidelberg haben gemeinsam mit uns im CONFIRM!-Projekt einen Algorithmus entwickelt, der die während der Operation aufgezeichneten Daten eigenständig auswertet. Neurophysiologinnen und -physiologen müssen also nicht mehr unzählige Kurven interpretieren, bevor sie handeln können. Sie drehen auch nicht mehr an vielen Knöpfen und Schaltern, sondern montieren ihre Elektroden auf übersichtliche Weise und überwachen das elektrophysiologische System, das ihnen Handlungsvorschläge macht. Sie werden quasi Schritt für Schritt durch die Operation geführt.

Confirm-Funktionsweise

Reha

Confirm-Funktionsweise
Schematische Darstellung der Funktionsweise des CONFIRM!-Systems
Schematische Darstellung der Funktionsweise des CONFIRM!-Systems

Welche Vorteile ergeben sich dadurch?

Krüger: Unser Ziel ist es, den chirurgischen Eingriff so präzise durchführbar wie möglich zu machen. Denn jede Minute, die eine Operation länger dauert, ist kritisch für das Wohl der Patientinnen und Patienten. Dank der Automatisierung gehen wir von einer Verkürzung der Operationsdauer um die Hälfte aus. Wichtiger ist aber, dass das Implantat optimal sitzt und wirken kann. Nicht zuletzt trägt auch eine verbesserte Handhabung zu einem besseren OP-Ergebnis bei. Zum Beispiel haben wir die Anschlusskabel der Elektro-den mit einer einfachen Farbkodierung versehen. Bei unserer Anwendung handelt es sich allerdings erst um ein Funktionsmuster, also um eine Vorentwicklung, die noch in einen Prototyp und dann in ein Medizinprodukt überführt werden muss.

Die medizinische Expertise kam einerseits aus der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg, wo sich ein Forschungsteam schon seit vielen Jahren mit der Funktionswiederherstellung bei Querschnittgelähmten befasst. Andererseits unterstützten Expertinnen und Experten für Rückenmark-stimulation aus dem Centre Hospitalier Universitaire Vaudois in Lausanne das Vorhaben.
Das Besondere an der Zusammenarbeit im Projekt: Die technischen Systeme wurden in einem sehr frühen Entwicklungsstadium an die Universitäten weitergegeben. So konnten sich die medizinisch Forschenden aktiv in die technische Entwicklung einbringen. Aus der Zusammenarbeit von Fachleuten der Chirurgie, der Neurophysiologie und dem Ingenieurwesen ist so eine besonders anwendungsfreundliche Lösung entstanden. Der zugehörige Algorithmus folgt nun einer klinisch belastbaren Ablaufkette.

Obwohl das CONFIRM!-System noch kein fertiger Prototyp ist, haben Sie es bereits an Menschen anwenden können. Wie kam es dazu?

Krüger: Das geschah innerhalb einer parallel zum Projekt beantragten und genehmigten Studie. Diese Studien mit Patientinnen und Patienten sind unbedingt notwendig, damit Forschende erfahren, ob die Entwicklung überhaupt funktioniert und erkennen, wo sie noch verbessert werden muss. Dass eine Ent-wicklung schon als Funktionsmuster angewendet wird, ist nicht selbstverständlich. Glücklicherweise hat uns die Ethik-Kommission der Schweiz das ermöglicht. Betroffene haben sich gleich für unsere Studie interessiert, denn so ein Hilfsmittel ist ja in jedem Einzelfall mit der Hoffnung auf ein Stück Normalität verbunden.

Confirm-Zeitstrahl

Reha

Confirm-Zeitstrahl
Von der klinischen Erprobung zum fertigen Medizinprodukt
Von der klinischen Erprobung zum fertigen Medizinprodukt

Wer kommt für die Rückenmarkstimulation überhaupt infrage und wie sind die ersten Rückmeldungen?

Krüger: Querschnittsgelähmte Menschen, bei denen das Rückenmark anatomisch nicht vollständig durch-trennt ist und zumindest einige Befehle vom Gehirn über die Verletzungsstelle weitergeleitet werden, können davon profitieren. Die Therapieerfolge bei den ersten Nutzern sind sehr vielversprechend, konn-ten diese doch wieder selbstständig aufstehen, kürzere Distanzen am Rollator zurücklegen und wieder sportlichen Aktivitäten wie Liegeradfahren nachgehen. Allerdings müssen vor der Operation natürlich viele neurophysiologische und physiologische Tests durchgeführt werden, um zu prüfen, ob es über-haupt sinnvoll ist, ein Implantat einzusetzen.

Herr Doktor Krüger, wir bedanken uns für dieses Gespräch!