Daten aus BMBF-geförderter Studie helfen bei Integration : Datum: , Thema: Kinder & Jugendliche aus der Ukraine
Die BMBF-geförderte Studie ReGES hat von 2016 bis 2021 die Situation der Geflüchteten untersucht, die vor allem in den Jahren 2015 und 2016 zu uns gekommen sind. Was man daraus für die aktuelle Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine und die Integration ins deutsche Bildungssystem lernen kann, darüber haben wir mit Frau Dr. von Maurice und Frau Dr. Will gesprochen.
Mit der ReGES-Studie wurden Familien, Kindern und Jugendliche untersucht, die 2015 und 2016 – vorwiegend als syrische Kriegsflüchtlinge – nach Deutschland gekommen sind.
Frau von Maurice, Frau Will, können die Erkenntnisse jetzt bei der Integration ukrainischer Kinder und Jugendlicher in unser Bildungssystem helfen?
Jutta von Maurice:
Mit der Studie ReGES - Refugees in the German Educational System hat es uns das BMBF ermöglicht, Daten zu erheben, die die frühe Phase der Integration von Geflüchteten in das deutsche Bildungssystem abbilden. Wir haben Daten von 2.405 Kindern im Vorschulalter und 2.415 Jugendlichen, die sich zum Zeitpunkt der ersten Befragung noch in allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I befanden, erhoben. Diese Datengrundlage kann in jedem Fall auch Hinweise für die Integration ukrainischer Kinder und Jugendlicher geben.
Gisela Will:
Ähnlich wie die Syrerinnen und Syrer Mitte der 2010er Jahre mussten die Ukrainerinnen und Ukrainer unvermittelt flüchten und haben oft Traumatisches erlebt. Die Kinder und Jugendlichen mussten mitten im Schuljahr fliehen und starten jetzt neu in einem Bildungssystem, das sie nicht kennen und dessen Unterrichtssprache sie in der Regel nicht beherrschen. Erkenntnisse zur Integration neuzugewanderter Kinder in Kindertageseinrichtungen, zur Beschulung von Quereinsteigern oder zum Deutschspracherwerb sind daher sicherlich auch in wesentlichen Aspekten auf die Gruppe der ukrainischen Geflüchteten übertragbar.
Und was sind die Unterschiede?
von Maurice:
Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen den Geflüchteten aus Syrien, die Mitte der 2010er Jahre zu uns gekommen sind, und den aktuell Geflüchteten aus der Ukraine. Das sind etwa Unterschiede in soziodemographischen Merkmalen - beispielsweise ist der Bildungsstand der ukrainischen Geflüchteten höher, es sind mehr Frauen und kaum allein reisende Jugendliche und die ukrainischen Geflüchteten kommen aus einem anderen kulturellen Hintergrund. Aber auch in der Flucht an sich besteht ein Unterschied. Beide Gruppen kamen oder kommen aus Kriegsgebieten. Aber: Ein Viertel der in der ReGES-Stichprobe befragten Familien waren zum Beispiel ein Jahr oder länger auf der Flucht - die Bildungskarriere damit lange unterbrochen. Das sieht bei den aktuell ankommenden Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine anders aus. Allerdings müssen wir ja in Rechnung stellen, dass sich immer noch viele Menschen in Kriegsgebieten aufhalten, bei denen sich Unterbrechungen in der Bildungskarriere ganz anders zeigen werden, oder die Deutschland erst verzögert über andere Länder erreichen werden.
Will:
Ein weiterer Unterschied zu den Geflüchteten, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, ist, dass die meisten Geflüchteten aus der Ukraine aktuell den Wunsch und die Hoffnung haben, möglichst schnell in die Ukraine zurückzukehren. Und vermutlich wird sich dieser Rückkehrwunsch auch auf die Situation im Bildungssystem auswirken. Aktuell steht ja etwa zur Debatte, dass die ukrainischen Kinder und Jugendlichen weiter nach ukrainischem Lehrplan und in ukrainischer Sprache unterrichtet werden sollen. Dies als alleinige Strategie umzusetzen, sehen wir nicht. Wir halten es aus verschiedenen Gründen für wichtig, die Kinder und Jugendlichen sehr schnell in die deutschen Bildungsinstitutionen zu integrieren. Natürlich kann es durchaus zusätzliche unterstützende Angebote in ukrainischer Sprache geben. Vor allem für ältere Schülerinnen und Schüler, die kurz vor ihrem Schulabschluss stehen, sollten Möglichkeiten geschaffen werden, die ukrainischen Abschlüsse auch noch in Deutschland erwerben zu können.
von Maurice:
Eine Integration in das deutsche Bildungssystem ist aus unserer Sicht auch wichtig, um den Kindern und Jugendlichen, aber auch den Eltern Struktur und eine gewisse Normalität zu geben - sofern dies für die ukrainischen Familien, deren Väter oft noch in der Ukraine sind - überhaupt möglich ist. Und wir müssen leider auch in Rechnung stellen, dass ein Ende der Kriegshandlungen aktuell nicht absehbar ist und die Zerstörungen der ukrainischen Infrastruktur teils extrem sind. Es ist also leider alles andere als sicher, dass sich der Rückkehrwunsch wirklich zeitnah umsetzen lässt.
Konnten in der Studie besondere Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen erfasst werden? Viele Kinder sind bei ihrer Ankunft in Deutschland durch das Erlebte ja traumatisiert. Hat das Einfluss darauf wie und wie schnell sie beschult werden können?
Will:
Wir haben in der ReGES-Studie auf verschiedene Weise versucht, eine mögliche Traumatisierung der Kinder und Jugendlichen zu erfassen. Wir sehen: Nur wenige der ReGES-Kinder im Vorschulalter und der ReGES-Jugendlichen haben nach Angaben der Eltern eine diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung oder werden psychologisch betreut. Hier haben wir Anteile jeweils zwischen 1 % und 3 %. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung haben, dürfte aber in beiden Gruppen höher sein. Nach den Daten der ReGES-Studie, in der auch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung erfragt wurden, haben 4 % der Kinder ein mindestens mittleres Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei den Jugendlichen liegt der Anteil bei 13 %. Das sind sicher keine unwesentlichen Zahlen.
Die Auswirkungen einer posttraumatischen Belastungsstörung können je nach untersuchtem Bildungsaspekt sehr unterschiedlich sein, das zeigen die verschiedenen Publikationen aus unserem Team. Während wir zwischen dem Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung und der besuchten Schulform oder der Dauer bis zur Einschulung keinen signifikanten Zusammenhang sehen, finden wir zwischen dem Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung und dem Besuch einer Kindertagesstätte einen positiven Zusammenhang. Für den letztgenannten Befund kann es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten geben. Einerseits kann es sein, dass in der Kindertagesstätte eine posttraumatische Belastungsstörung eher entdeckt wird, andererseits kann es aber auch sein, dass eine seelische Belastung des Kindes mit einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter zusammenhängt. Wird bei der Mutter eine solche posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, kann es sein, dass sie bevorzugt einen Betreuungsplatz für ihr Kind in einer Kindertagesstätte bekommt, damit sie selbst entlastet wird. Diese ja wirklich sinnvolle Steuerung wurde uns aus der Praxis berichtet.
Auch wenn wir uns schulische Leistungen und Kompetenzen ansehen, sind die Ergebnisse uneinheitlich. Während das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung negativ mit den schulischen Leistungen (gemessen über Noten) der Jugendlichen zusammenhängt, sehen wir keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung und den Deutschkompetenzen bei den Kindern.
Wenn die Kinder und Jugendlichen in Deutschland eingeschult werden, beherrschen sie oft kaum die deutsche Sprache. In vielen Bundesländern wurden daher sogenannte „Willkommensklassen“ eingerichtet, die nun auch ukrainische Kinder und Jugendliche auf den Besuch von Regelklassen vorbereiten sollen. Liegen Ihnen Erkenntnisse dazu vor, wie erfolgreich die Willkommensklassen sind?
von Maurice:
Das ist eine sehr wichtige Frage. Immerhin sehen wir in den ReGES-Daten, dass 56 % der Jugendlichen angeben, in Deutschland mindestens einmal in einer Willkommensklasse oder einer Neuzuwandererklasse beschult worden zu. Dabei müssen wir aber einschränkend sagen, dass wir in ReGES nicht alle Bundesländer berücksichtigen, so dass sich diese Quote nicht auf Deutschland insgesamt verallgemeinern lässt. Allerdings zeigen die Befunde unseres Forschungsteams alleine schon in den in ReGES betrachteten Bundesländern, dass es große Unterschiede gibt, etwa an welchen Schulformen diese Willkommensklassen angesiedelt sind. Wenn Willkommensklassen beispielsweise an Gymnasien angesiedelt sind, dann scheint auch der Übergang in ein Gymnasium leichter zu gelingen. Wenn Willkommensklassen an anderen Schulformen verankert sind, dann erfolgt dieser Übergang an ein Gymnasium jedoch mit geringerer Wahrscheinlichkeit. Auch bestehen Unterschiede dahingehend, wie lange die Jugendlichen eine solche Klasse besuchen, welche Kriterien beim Übergang in die Regelklasse eine Rolle spielen und wie der Unterricht in den Willkommensklassen konkret ausgestaltet ist. Neben geflüchteten Jugendlichen, die in allen Fächern separat beschult werden, gibt es auch viele Jugendliche, die zwar Willkommensklassen besuchen, aber zumindest in einigen Fächern, z.B. im Sportunterricht, gemeinsam mit anderen Schülerinnern und Schülern beschult werden. In seltenen Fällen kommt es allerdings auch vor, dass Willkommensklassen nicht im gleichen Gebäudekomplex wie alle anderen Klassen untergebracht sind.
Die Frage, wie erfolgreich Willkommensklassen sind, ist daher alleine aufgrund dieser Heterogenität so pauschal nicht zu beantworten. Zudem wird sich der Erfolg oder aber auch Misserfolg des jeweils eingeschlagenen Bildungswegs für viele Jugendliche erst im weiteren Verlauf - etwa mit Blick auf erfolgreiche Schulabschlüsse oder die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums - zeigen. Hier müssen wir uns aufgrund der Datenlage noch etwas gedulden.
Will:
Insgesamt rechnen wir aber damit, dass die Antwort auf die Frage nach der Wirkung oder Effektivität von Willkommensklassen auch nicht so eindeutig sein wird, wie man sich dies vielleicht wünschen würde. Für manche Jugendlichen mag die sofortige Integration in die Regelklasse der beste Weg sein, für andere ist der Schutzraum einer Willkommensklasse gerade zu Beginn vielleicht hilfreich. Hier besteht in jedem Fall noch weiterer Forschungsbedarf.
Eine wichtige Ergänzung in diesen Kontext: Um die Wirksamkeit von Willkommensklassen für die Entwicklung von Sprachkompetenzen untersuchen zu können, wäre es eigentlich notwendig, die Sprachkompetenzen der Kinder und Jugendlichen bereits vor der Einschulung zu erfassen. Eine umfassende Diagnostik verschiedener Kompetenzen der geflüchteten Kinder und Jugendlichen vor der Einschulung wäre natürlich auch für die Praxis eine wichtige Hilfe, um die Kinder besser - an den individuellen Ausgangslagen orientiert - verschiedenen Schulformen und Klassenstufen zuzuweisen. Bei der so heterogenen Gruppe der Zugewanderten aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern und mit unterschiedlichsten Herkunftssprachen Mitte der 2010er Jahre war das natürlich eine fast unmögliche Herausforderung. Dies könnte bei der Integration der ukrainischen Geflüchteten nun möglicherweise besser umzusetzen sein.
Gibt es weitere Erkenntnisse darüber, wie die Sprachkenntnisse am besten erworben werden können?
von Maurice:
Aus der Forschung wissen wir, dass der Kontakt zu einer Sprache besonders bedeutsam für den Erwerb von Kompetenzen in dieser Sprache ist. Dieser Kontakt kann nun auf verschiedene Weise gefördert werden. Ein erster wichtiger Schritt ist natürlich die Kinder und Jugendlichen in das deutsche Bildungssystem zu integrieren und zwar so schnell wie möglich. Aber auch Kontakte zur Sprache, die sich über Sportangebote, musische Angebote oder über Ehrenamtliche entfalten, können die zu uns gekommenen Kinder und Jugendlichen im Spracherwerb - und darüber hinaus - unterstützen.
Neben dem alltäglichen Sprachkontakt sind aber auch zusätzlich gezielte Sprachfördermaßnahmen notwendig. In den ReGES-Daten sehen wir, dass zum ersten Befragungszeitpunkt lediglich 26 % der Vorschulkinder und nur 35 % der Jugendlichen gezielte Sprachförderung erhalten. Vor allem muss auch erwähnt werden, dass außerhalb von Kindertagesstätte und Schule kaum Sprachförderung genutzt wird. Die Angebote und Teilnahme an gezielter Sprachförderung für Geflüchtete deutlich zu erhöhen, wäre ein wichtiges Ziel. Wenn ich dies zusammenfasse: Die Teilhabe an Bildungseinrichtungen in Deutschland unterstützt sowohl den alltäglichen Sprachkontakt wie auch den Zugang zu gezielter Sprachförderung.
Was stellt auf Grundlage Ihrer Forschungsergebnisse die größte Herausforderung bei der Integration von Kindern und Jugendlichen in Schulen dar?
Will:
Die größte Herausforderung dürfte sicherlich sein, die Kinder und Jugendlichen schnell in das deutsche Bildungssystem zu integrieren. In den ReGES-Daten haben wir gesehen, dass es im Durchschnitt über 7 Monate gedauert hat, bis die Jugendlichen eine deutsche Schule besuchen konnten. Eine schnellere Integration in die Schule wäre sicherlich wünschenswert, indem z.B. neu zugewanderte Kinder und Jugendliche nicht nur zum Halbjahr oder zu Beginn des Schuljahres, sondern auch während des Schuljahres zeitnah nach Ankunft eingeschult werden. Auch die Entkoppelung der Schulpflicht von anderen administrativen Prozessen, wie etwa der Zuweisung zu einer Kommune, könnte zu einer schnelleren Beschulung beitragen.
Insgesamt muss man aber sagen, dass laut Einschätzung der pädagogischen Fachkräfte, die wir in ReGES befragt haben, die Integration der Geflüchteten in das deutsche Bildungssystem im Großen und Ganzen gut gelungen ist. Und auch aktuell leisten die Mitarbeitenden vor Ort schon wieder tolle Arbeit. Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass sowohl in den Kindertageseinrichtungen als auch in den Schulen die personelle Situation als die größte Herausforderung bei der Integration neuzugewanderter Kinder und Jugendlicher genannt wird. Das ist ein Befund, den wir ernst nehmen müssen.